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nur einen Spaß, und hat uns zum besten, wie z. B. der Naturforscher und Historienschreiber. Aber eine einzelne Handlung oder Begebenheit ist interessant, nicht weil sie erklärbar oder wahrscheinlich, sondern weil sie wahr ist. Wenn gegen Mitternacht die Flamme den Schreibtisch der Tante verzehrt hat, so ist das sonderbare Reissen des unsern zu gleicher Zeit für uns eine wahre Begebenheit, sie mag übrigens erklärbar seyn und zusammenhängen mit was sie will.

So tief es auch schon in der Nacht war, fühlte niemand eine Neigung zu Bette zu gehen und Karl erbot sich gleichfalls eine Geschichte zu erzählen, die nicht minder interessant sey, ob sie sich gleich vielleicht eher erklären und begreiffen lasse, als die vorigen.

Der Marschall von Bassompierre, sagte er, erzählt sie in seinen Memoiren; es sey mir erlaubt in seinem Namen zu reden.

Seit fünf oder sechs Monaten hatte ich bemerkt, so oft ich über die kleine Brücke ging, (denn zu der Zeit war der Pont neuf noch nicht gebaut) daß eine schöne Krämerin, deren Laden an einem Schilde mit zwey Engeln kenntlich war, sich tief und wiederhohlt vor mir neigte und mir so weit nachsah, als sie nur konnte. Ihr Betragen fiel mir auf, ich sah sie gleichfalls an und dankte ihr sorgfältig. Einst ritt ich von Fontainebleau nach Paris, und als ich wieder die kleine Brücke herauf kam, trat sie an ihre Ladenthüre und sagte zu mir, indem ich vorbeyritt: mein Herr, Ihre Dienerin! Ich erwiederte ihren Gruß und indem ich mich von Zeit zu Zeit umsah, hatte sie

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 2-22. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_1-1795.pdf/138&oldid=- (Version vom 1.8.2018)