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einiger Vorliebe gedacht habe, sogleich aus dem Stegreife vorzutragen anfange.

In einer italiänischen Seestadt lebte vor Zeiten ein Handelsmann, der sich von Jugend auf durch Thätigkeit und Klugheit auszeichnete. Er war dabey ein guter Seemann und hatte grosse Reichthümer erworben, indem er selbst nach Alexandria zu schiffen, kostbare Waaren zu erkaufen oder einzutauschen pflegte, die er alsdann zu Hause wieder abzusetzen oder in die nördlichen Gegenden Europens zu versenden wußte. Sein Vermögen wuchs von Jahr zu Jahr um so mehr, als er in seiner Geschäftigkeit selbst das größte Vergnügen fand, und ihm keine Zeit zu kostspieligen Zerstreuungen übrig blieb.

Bis in sein funfzigstes Jahr hatte er sich auf diese Weise emsig fortbeschäftigt und ihm war von den geselligen Vergnügungen wenig bekannt worden, mit welchen ruhige Bürger ihr Leben zu würzen verstehen; eben so wenig hatte das schöne Geschlecht, bey allen Vorzügen seiner Landsmänninnen, seine Aufmerksamkeit nicht weiter erregt, als insofern er ihre Begierde nach Schmuck und Kostbarkeiten sehr wohl kannte, und sie gelegentlich zu nutzen wußte.

Wie wenig versah er sich daher auf die Veränderung, die in seinem Gemüthe vorgehen sollte, als eines Tags sein reich beladen Schiff in dem Hafen seiner Vaterstadt einlief, eben an einem jährlichen Feste, das besonders der Kinder wegen gefeyert wurde. Knaben und Mädchen pflegten nach dem Gottesdienste in allerley Verkleidungen sich zu zeigen, bald in Prozessionen, bald in Schaaren

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-43. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/51&oldid=- (Version vom 1.8.2018)