Seite:Schiller Die Horen 2-1795.pdf/56

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und wenn ich keinen andern Entschluß fasse, so bin ich in kurzer Zeit dem Tode nahe.

Freylich ist es ein gewagtes Unternehmen, sich von einer jungen liebenswürdigen Frau zu entfernen. Ist es billig um ein reitzendes und reitzbares Mädchen zu freyen und sie nach einer kurzen Zeit sich selbst, der langen Weile, ihren Empfindungen und Begierden zu überlassen? Spatzieren diese jungen seidnen Herren nicht schon jetzt vor meinen Fenstern auf und ab? Suchen sie nicht schon jetzt, in der Kirche und in Gärten, die Aufmerksamkeit meines Weibchens an sich zu ziehen? und was wird erst geschehen, wenn ich weg bin? Soll ich glauben, daß mein Weib durch ein Wunder gerettet werden könnte? Nein, in ihrem Alter, bey ihrer Konstitution wäre es thörigt zu hoffen, daß sie sich der Freuden der Liebe enthalten könnte? Entfernst du dich, so wirst du bey deiner Rückkunft die Neigung deines Weibes, und ihre Treue zugleich mit der Ehre deines Hauses verlohren haben.

Diese Betrachtungen und Zweifel, mit denen er sich eine Zeitlang quälte, verschlimmerten den Zustand, in dem er sich befand, aufs äußerste. Seine Frau, seine Verwandten und Freunde betrübten sich um ihn, ohne daß sie die Ursache seiner Krankheit hätten entdecken können. Endlich ging er nochmals bey sich zu Rathe und rief nach einiger Ueberlegung aus: Thörigter Mensch! du läßt es dir so sauer werden, ein Weib zu bewahren, das du doch bald, wenn dein Uebel fortdauert, sterbend hinter dir und einem andern lassen mußt. Ist es nicht wenigstens klüger und besser, du suchst das Leben zu erhalten, wenn du gleich in Gefahr kommst, an ihr dasjenige zu verlieren, was als

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-48. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/56&oldid=- (Version vom 1.8.2018)