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Diese Gesinnungen traue ich Dir zu, versetzte der Gemahl, und bitte Dich darinn zu verharren. Laß uns aber an die äußersten Falle denken, warum soll man sich nicht auch darauf vorsehen? Du weißt wie sehr deine schöne und reitzende Gestalt die Augen unsrer jungen Mitbürger auf sich zieht; sie werden sich in meiner Abwesenheit noch mehr als bisher um Dich bemühen; sie werden sich Dir auf alle Weise zu nähern, ja zu gefallen suchen. Nicht immer wird das Bild Deines Gemahls, wie jetzt seine Gegenwart, sie von deiner Thüre und deinem Herzen verscheuchen. Du bist ein edles und gutes Kind, aber die Forderungen der Natur sind rechtmäßig und gewaltsam; sie stehen mit unserer Vernunft beständig im Streite und tragen gewöhnlich den Sieg davon. Unterbrich mich nicht. Du wirst gewiß in meiner Abwesenheit selbst bey dem pflichtmäßigen Andenken an mich das Verlangen empfinden, wodurch das Weib den Mann anzieht, und von ihm angezogen wird. Ich werde eine Zeitlang der Gegenstand Deiner Wünsche seyn; aber wer weiß was für Umstände zusammentreffen, was für Gelegenheiten sich finden, und ein anderer wird in der Wirklichkeit erndten was die Einbildungskraft mir zugedacht hatte. Werde nicht ungedultig, ich bitte Dich, höre mich aus.

Sollte der Fall kommen, dessen Möglichkeit Du leugnest, und den ich auch nicht zu beschleunigen wünsche, daß Du ohne die Gesellschaft eines Mannes nicht länger bleiben, die Freuden der Liebe nicht wohl entbehren könntest, so versprich mir nur, an meine Stelle keinen von den leichtsinnigen Knaben zu wählen, die, so artig sie auch aussehen mögen, der Ehre noch mehr als der Tugend einer Frauen gefährlich sind. Mehr durch Eitelkeit als

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/59&oldid=- (Version vom 1.8.2018)