Seite:Schiller Die Horen 2-1795.pdf/66

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

und versicherte, daß er, sobald man von der Tafel aufgestanden, nicht säumen würde, ihrer Gebieterin aufzuwarten. Mit unaussprechlicher Freude vernahm die schöne Frau, daß sie den Geliebten nun bald sehen und sprechen sollte. Sie eilte sich aufs beste anzuziehen und ließ geschwind ihr Haus und ihre Zimmer auf das reinlichste ausputzen. Orangenblätter und Blumen wurden gestreut, der Sopha mit den köstlichsten Teppigen bedeckt. So ging die kurze Zeit, die er ausblieb, beschäftigt hin, die ihr sonst unerträglich lang geworden wäre.

Mit welcher Bewegung ging sie ihm entgegen, als er endlich ankam, mit welcher Verwirrung hieß sie ihn, indem sie sich auf das Ruhebette niederließ, auf ein Tabouret setzen, das zunächst dabey stand. Sie verstummte in seiner so erwünschten Nähe, sie hatte nicht bedacht, was sie ihm sagen wollte, auch er war still und saß bescheiden vor ihr. Endlich ermannte sie sich und sagte nicht ohne Sorge und Beklommenheit:

Sie sind noch nicht lange in Ihrer Vaterstadt wieder angekommen, mein Herr, und schon sind Sie allenthalben für einen talentreichen und zuverläßigen Mann bekannt. Auch ich setze mein Vertrauen auf Sie in einer wichtigen und sonderbaren Angelegenheit, die, wenn ich es recht bedenke, eher für den Beichtvater als für den Sachwalter gehört. Seit einem Jahre bin ich an einen würdigen und reichen Mann verheirathet, der so lange wir zusammen lebten, die größte Aufmerksamkeit für mich hatte, und über den ich mich nicht beklagen würde, wenn nicht ein unruhiges Verlangen zu reisen und zu handeln ihn seit einiger Zeit aus meinen Armen gerissen hätte.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-58. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/66&oldid=- (Version vom 1.8.2018)