Seite:Schiller Die Horen 2-1795.pdf/74

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

es bedarf weiter keines Zuredens, mein werther Freund, und ich werde mein Gelübde diese wenigen Tage mit Geduld und mit der Ueberzeugung ausdauern, daß Sie es mir zu meinem Besten auferlegt haben. Ich bin jetzt zu schwach, als daß ich Ihnen meinen Dank ausdrücken könnte, wie ich ihn empfinde. Sie haben mich mir selbst erhalten; Sie haben mich mir selbst gegeben, und ich erkenne, daß ich mein ganzes Daseyn von nun an Ihnen schuldig bin.

Wahrlich mein Mann war verständig und klug, und kannte das Herz einer Frau; er war billig genug, sie über eine Neigung nicht zu schelten, die durch seine Schuld in ihrem Busen entstehen konnte, ja er war großmüthig genug, seine Rechte der Foderung der Natur hintan zu setzen. Aber Sie mein Herr, Sie sind vernünftig und gut; Sie haben mich fühlen lassen, daß außer der Neigung noch etwas in uns ist, das ihr das Gleichgewicht halten kann, daß wir fähig sind, jedem gewohnten Gut zu entsagen und selbst unsre heißesten Wünsche von uns zu entfernen. Sie haben mich in diese Schule durch Irrthum und Hoffnung geführt, aber beyde sind nicht mehr nöthig, wenn wir uns erst mit dem guten und mächtigen Ich bekannt gemacht haben, das so still und ruhig in uns wohnt, und so lange biß es die Herrschaft im Hause erhält, wenigstens durch zarte Erinnerungen seine Gegenwart unaufhörlich merken läßt. Leben Sie wohl. Ihre Freundinn wird Sie künftig mit Vergnügen sehen; wirken Sie auf Ihre Mitbürger wie auf mich; entwickeln Sie nicht allein die Verwirrungen, die nur zu leicht über Besitzthümer entstehen, sondern zeigen Sie ihnen auch durch sanfte Anleitung und durch Beyspiel, daß in jedem Menschen die

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 4-66. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_2-1795.pdf/74&oldid=- (Version vom 1.8.2018)