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Hinaustragen mochte sich etwas am Werke verrücken und sie blieb auf halb zwölfe stehen. Wir haben also wenigstens was die Zeit betrifft eine völlige Uebereinstimmung. Die Baroneß lächelte, der Hofmeister behauptete, daß wenn zwey Dinge zusammenträfen, man deswegen noch nicht auf ihren Zusammenhang schließen könne! Luisen gefiel es dagegen diese beyden Vorfälle zu verknüpfen, besonders da sie von dem Wohlbefinden ihres Bräutigams Nachricht gehabt hatte, und man ließ der Einbildungskraft abermals vollkommen freyen Lauf.

Wissen Sie nicht, sagte Karl zum Alten, uns irgend ein Mährchen zu erzählen? Die Einbildungskraft ist ein schönes Vermögen, nur mag ich nicht gern, wenn sie das was wirklich geschehen ist, verarbeiten will; die luftigen Gestalten, die sie erschaft, sind uns als Wesen einer eigenen Gattung sehr willkommen, verbunden mit der Wahrheit bringt sie meist nur Ungeheuer hervor und scheint mir alsdann gewöhnlich mit dem Verstand und der Vernunft im Widerspruche zu stehen. Sie muß sich, deucht mich, an keinen Gegenstand hängen, sie muß uns keinen Gegenstand aufdringen wollen, sie soll, wenn sie Kunstwerke hervorbringt, nur wie eine Musik auf uns selbst spielen, uns in uns selbst bewegen und zwar so daß wir vergessen, daß etwas ausser uns sey, das diese Bewegung hervorbringt.

Fahren Sie nicht fort, sagte der Alte, Ihre Anforderungen an ein Product der Einbildungskraft umständlicher auszuführen. Auch das gehört zum Genuß an solchen Werken, daß wir ohne Forderungen genießen, denn sie selbst kann nicht fordern, sie muß erwarten was

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 9-51. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/261&oldid=- (Version vom 1.8.2018)