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und ihren Verdacht auf den Oheim zugleich zu erkennen gab.

Aber um sich und ihr dieses Vergnügen zu machen mußte er noch einigemal den Schreibtisch seines Vaters eröffnen, und that es mit desto weniger Sorge, als der Vater zu verschiedenen Zeiten Geld hinein gelegt und herausgenommen hatte, ohne es aufzuschreiben.

Bald darauf sollte Ottilie zu ihren Eltern auf einige Monate verreisen. Die jungen Leute betrübten sich äusserst da sie scheiden sollten, und ein Umstand machte ihre Trennung noch bedeutender. Ottilie erfuhr durch einen Zufall, daß die Geschenke, die sie erhalten hatte, von Ferdinanden kamen; sie setzte ihn darüber zu Rede und als er es gestand, schien sie sehr verdrießlich zu werden. Sie bestand darauf, daß er sie zurücknehmen sollte, und diese Zumuthung machte ihm die bittersten Schmerzen. Er erklärte ihr, daß er ohne sie nicht leben könne noch wolle; er bat sie ihm ihre Neigung zu erhalten, und beschwur sie ihm ihre Hand nicht zu versagen, sobald er versorgt und häuslich eingerichtet seyn würde. Sie liebte ihn, sie war gerührt, sie sagte ihm zu, was er wünschte, und in diesem glücklichen Augenblicke versiegelten sie ihr Versprechen mit den lebhaftesten Umarmungen und mit tausend herzlichen Küssen.

Nach ihrer Abreise schien Ferdinand sich sehr allein. Die Gesellschaften, in welchen er sie zu sehen pflegte, reitzten ihn nicht mehr, indem sie fehlte. Er besuchte nur noch aus Gewohnheit sowohl Freunde als Lustörter, und nur mit Widerwillen griff er noch einigemal in die

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 7-63. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_3-1795.pdf/71&oldid=- (Version vom 1.8.2018)