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necken, und sie antwortete dem durchsichtigen Liebling durch das freundlichste Betragen. Sie klatschte mit den Händen um ihn zu verscheuchen, dann lief sie um ihn wieder nach sich zu ziehen. Sie suchte ihn zu haschen wenn er floh und jagte ihn von sich weg wenn er sich an sie zu drängen versuchte. Der Jüngling sah stillschweigend und mit wachsendem Verdrusse zu; aber endlich da sie das häßliche Thier das ihm ganz abscheulich vorkam, auf den Arm nahm, an ihren weissen Busen drückte und die schwarze Schnauze mit ihren himmlischen Lippen küßte, verging ihm alle Geduld und er rief voller Verzweiflung aus: muß ich, der ich durch ein trauriges Geschick vor dir, vielleicht auf immer, in einer getrennten Gegenwart lebe, der ich durch dich alles, ja mich selbst, verlohren habe, muß ich vor meinen Augen sehen daß eine so widernatürliche Mißgeburt dich zur Freude reitzen, deine Neigung fesseln und deine Umarmung geniessen kann. Soll ich noch länger nur so hin und wieder gehen und den traurigen Creiß den Fluß herüber und hinüber abmessen? Nein, es ruht noch ein Funke des alten Heldenmuthes in meinem Busen; er schlage in diesem Augenblick zur letzten Flamme auf. Wenn Steine an deinem Busen ruhen können, so möge ich zu Stein werden wenn deine Berührung tödtet, so will ich von deinen Händen sterben.

Mit diesen Worten machte er eine heftige Bewegung; der Habicht flog von seiner Hand, er aber stürzte auf die Schöne los, sie streckte die Hände aus ihn abzuhalten und berührte ihn nur desto früher. Das Bewußtseyn verließ ihn und mit Entsetzen fühlte sie die schöne Last an ihrem Busen. Mit einem Schrey trat sie zurück und der holde Jüngling sank entseelt aus ihren Armen zur Erde.

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 10-133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_4-1795.pdf/141&oldid=- (Version vom 1.8.2018)