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Die Weiber schrien laut, und der Tempel schütterte wie ein Schiff das unvermuthet ans Land stößt. Aengstlich irrten die Frauen in der Dämmerung um die Hütte, die Thüre war verschlossen und auf ihr Pochen hörte niemand; Sie pochten heftiger und wunderten sich nicht wenig als zuletzt das Holz zu klingen anfing. Durch die Krafft der verschlossenen Lampe war die Hütte von innen heraus zu Silber geworden. Nicht lange, so veränderte sie sogar ihre Gestalt; denn das edle Metall verließ die zufälligen Formen der Bretter, Pfosten und Balken und dehnte sich zu einem herrlichen Gehäuße von getriebener Arbeit aus. Nun stand ein herrlicher kleiner Tempel in der Mitte des Großen, oder wenn man will ein Altar des Tempels würdig.

Durch eine Treppe, die von innen heraufging trat nunmehr der edle Jüngling in die Höhe, der Mann mit der Lampe leuchtete ihm und ein anderer schien ihn zu unterstützen, der in einem weissen kurzen Gewand hervorkam und ein silbernes Ruder in der Hand hielt, man erkannte in ihm sogleich den Fährmann, den ehemaligen Bewohner der verwandelten Hütte.

Die schöne Lilie stieg die äußeren Treppen hinauf, die von dem Tempel auf den Altar führten, aber noch immer mußte sie sich von ihrem Geliebten entfernt halten. Die Alte, deren Hand, so lange die Lampe verborgen gewesen, immer kleiner geworden war, rief: soll ich doch noch unglücklich werden, ist bey so vielen Wundern durch kein Wunder meine Hand zu retten. Ihr Mann deutete ihr nach der offenen Pforte und sagte: siehe der Tag bricht an, eile und bade dich im Fluße. –

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 10-144. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_4-1795.pdf/152&oldid=- (Version vom 1.8.2018)