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hinauf entgegen eilte, denn sie hatte von der Zinne des Altars seiner Reise zugesehn, liebe Lilie! was kann der Mann, ausgestattet mit allem, sich köstlicheres wünschen als die Unschuld und die stille Neigung die mir dein Busen entgegen bringt? O! mein Freund, fuhr er fort, indem er sich zu dem Alten wendete und die drey heiligen Bildsäulen ansah. Herrlich und sicher ist das Reich unserer Väter, aber du hast die vierte Krafft vergessen, die noch früher, allgemeiner, gewisser die Welt beherrscht, die Krafft der Liebe. Mit diesen Worten fiel er dem schönen Mädchen um den Hals, sie hatte den Schleyer weggeworfen und ihre Wangen färbten sich mit der schönsten unvergänglichsten Röthe.

Hierauf sagte der Alte lächelnd: die Liebe herrscht nicht, aber sie bildet und das ist mehr.

Ueber dieser Feyerlichkeit, dem Glück, dem Entzücken hatte man nicht bemerkt, daß der Tag völlig angebrochen war, und nun fielen auf einmal durch die ofne Pforte ganz unerwartete Gegenstände der Gesellschaft in die Augen. Ein grosser mit Säulen umgebener Platz machte den Vorhof, an dessen Ende man eine lange und prächtige Brücke sah, die mit vielen Bogen über den Fluß hinüber reichte; sie war an beyden Seiten mit Säulengängen für die Wanderer bequem und prächtig eingerichtet, deren sich schon viele tausende eingefunden hatten, und emsig hin und wieder gingen. Der große Weg in der Mitte war von Heerden und Maulthieren, Reutern und Wagen belebt, die an beyden Seiten, ohne sich zu hindern, stromweise hin und her flossen, sie schienen sich alle über die Bequemlichkeit und Pracht zu verwundern,

Empfohlene Zitierweise:
Johann Wolfgang von Goethe: Unterhaltungen deutscher Ausgewanderten. In: Die Horen 1795, Band 1–4. Cotta, Tübingen 1795, Seite 10-147. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schiller_Die_Horen_4-1795.pdf/155&oldid=- (Version vom 1.8.2018)