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des aus jener geborenen Projektes für jeden logisch Denkenden verständlich darzulegen. Er kann nichts lieber wünschen, als Gelegenheit zu finden, für seine Sache den Beweis der Daseinsberechtigung zu erbringen.

Wenn ich den Versuch eines solchen Beweises hier unternehme, so muß ich mich freilich auf eine kurze Andeutung der wichtigsten Gesichtspunkte beschränken, soll anders noch Raum bleiben für eine selbst nur flüchtige Erörterung der von den Gegnern erhobenen Einwendungen wie für die Schilderung des gegenwärtigen Standes der Frage.

Mag auch schon früher der Wunsch bestanden haben, Verkehrserleichterungen und die Möglichkeit größerer Annäherung der Menschen untereinander zu schaffen, so hat doch erst ungefähr in der Mitte des vorigen Jahrhunderts die Bildung jenes Gedankenkreises begonnen, dessen realer Wert in dem alle Kulturvölker umfassenden Menschen- und Warenaustausch seinen Ausdruck findet. Noch ist die Reihe der Glieder nicht abgeschlossen; aber ihre Bedeutung für die Menschheit läßt sich doch schon in eine Formel bringen: die Erfindungen, denen die Benutzung des Dampfes und der Elektrizität zugrunde liegt, haben als eigentliches Resultat bisher die Annäherung der Körper.

In der Tat, die außerordentlichen Verkehrserleichterungen unsrer Tage, der stetig fortschreitende Ausbau der Schienenwege ermöglicht es auch dem weniger Begüterten, entfernte Plätze, die ihm vielleicht bessere Lebensbedingungen als die alte Wohnstätte bieten, ohne nennenswerte Beschwerden aufzusuchen.

Und die Schnelligkeit von heute ist morgen schon keine mehr. Eine »Reise um die Welt in achtzig Tagen« ausgeführt zu haben, erregt schon längst kein ungläubiges Erstaunen. Auch die älteren unter uns dürfen hoffen es zu erleben, daß man nur noch die Hälfte dieser Zeit dazu brauchen werde.

Ich betonte die Annäherung der Körper. Man wird mir entgegenhalten, daß, ganz abgesehen von dem Umstande, daß die so ausgiebig benutzte Möglichkeit räumlichen Wechsels einen beständigen Austausch von Gedanken, ein Anknüpfen geistiger Beziehungen zur notwendigen Folge hat, solche bereits zwischen den entferntesten Orten durch den schon nicht mehr bedingungslos an den Draht gebundenen elektrischen Funken vermittelt und unterhalten werden. Gewiß! Wer zählte die Fragen und Antworten, die täglich über Länder und Meere dahinfliegen; wer staunte nicht über die Fülle der Berichte, die jedem, der sie zu hören begehrt, Botschaft von den Geschehnissen allüberall auf dem Erdenrund bringen!

Gleichwohl dürfen wir es uns nicht verhehlen, daß die solcher Art bestehende Annäherung der Geister noch eine durchaus mangelhafte ist und in gar keinem irgend befriedigenden Verhältnis zu jener andern der Körper steht. Am klarsten tritt dies wohl auf den jetzt immer häufiger wiederkehrenden Weltkongressen in die Erscheinung. Die Vertreter von zehn und mehr Nationen kommen dort zusammen, um dann, der Not gehorchend, vermittelst der berühmten drei oder vier Kongreßsprachen höchst unvollkommen über die wichtigsten Menschheitsprobleme Verständigungen zu erzielen, richtiger gesagt, anzustreben. Die wenigsten Besucher derartiger Weltvereinigungen können den Verhandlungen und Vorträgen mit vollem Verständnis folgen; und die das wirklich vermögen, tun es nicht mit ihrer ganzen geistigen Frische, denn das langweilige Hin- und Her-Übersetzen raubt sie ihnen, den Tüchtigsten, zum Schaden der Gesamtheit. Für alle jedoch gilt mehr oder weniger die Forderung, für den persönlichen Austausch von Gedanken sich auf den begrenzten Kreis von gleichsprachigen, allenfalls gleichsprachkundigen Elementen zu beschränken. Man sieht also, Weltkongresse stellen Riesenkörper dar, gewaltig auf den ersten Anblick, aber des größten Teiles ihrer Macht verlustig durch den Prozeß der immer wieder stattfindenden Auflösung des Gesamtorganismus in viele einzelne, für sich wirkungslose Partikeln. Dem Riesenkörper fehlt eben der ihn beseelende, einheitliche Geist. Ein Gedanke, ein Wunsch, eine Überzeugung haben wohl Tausende zusammenströmen lassen; aber so voll bei allen das Herz ist, bei den wenigsten kann »des der Mund übergehen«. Die Zunge versagt den Dienst. Doch trösten wir uns; für die Idee gibt es keine unüberwindlichen Schranken, und in dem Maße, in dem sie, die ihrer Zeit vorauseilende, vielleicht längst geahnte, sich folgerichtig einer früheren anschließt, hat sie das Recht auf Verwirklichung erworben.

In dem Maße nun, wie die Völker dank der stets vollkommener werdenden Verkehrsmittel sich einander nähern, wie das Bedürfnis nach Gedankenaustausch ein alle Bevölkerungsschichten und Nationalitätsgruppen umfassenderes wird, muß einfach das Verlangen nach einem Mittel gebieterisch werden, das das eine große Hindernis allseitigen Verstehens beseitigt, das die chinesische Völkermauer, aufgetürmt aus den Bausteinen der nationalen Sprachen, zum Einsturz bringt.

Man möge dieses Bild nicht falsch deuten und in dem gewünschten Einsturz nichts Revolutionäres erblicken. Ich halte es allerdings für etwas ganz Selbstverständliches, daß die hierzu verhelfende, aus nationalen Idiomen herausgewachsene Weltsprache für jeden Erdenbürger neben die Muttersprache zu treten hätte. Der »wonnesame, traute Laut« dieser kann und soll nach wie vor uns allen, denen eine Mutter einst Wiegenlieder sang, teuer sein und bleiben.

Empfohlene Zitierweise:
Reinhold Schmidt: Der gegenwärtige Stand der Esperantobewegung. Bechhold, Frankfurt am Main 1908, Seite 127. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schmidt_Stand_der_Esperantobewegung_1908.pdf/2&oldid=- (Version vom 14.2.2021)