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wie sie von Mund zu Mund gingen, ein wenig über die Grenzen des streng tatsächlichen hinaus legendenhaft an Großartigkeit zunahmen. Aber sie wurden mit allen erdenklichen Versicherungen der Wahrhaftigkeit erzählt, und gewiß ist, daß mein Großvater in seiner Umgebung bei weitem der stärkste Mann war.

Eine sorgfältige[1] Erziehung hatte er nicht genossen. Das Lesen und Schreiben verstand er, aber zu seinen Lieblingsbeschäftigungen gehörte es nicht. Mit Büchern machte er sich wenig zu tun; dahingegen war er ein Mann von großer Autorität unter dem Volke. Vom Dorfe und aus der Umgegend kamen die Leute zum Burghalfen, um sich bei ihm Rat zu holen, oder ihm ihre Streitigkeiten vorzulegen. Und wenn der Burghalfen von irgend einem schlimmen Zwist zwischen Mann und Frau, oder zwischen Nachbarn erfuhr, so nahm er seinen Haselstock zur Hand und begab sich auf den Kriegsschauplatz. Da hörte er die Klagen und Verteidigungen der Parteien, und sobald er zum Schluß gekommen war, auf welcher Seite die Schuld lag, so fällte er sein Urteil und fügte auch wohl auf der Stelle die Strafe hinzu, die nicht selten in einer tüchtigen Tracht Prügel bestand. Gegen seinen Spruch und die unmittelbare Exekution, gegen diese patriarchalische Justiz, wagte niemand zu protestieren. Und wenn die Erntezeit kam und der Burghalfen brauchte Arbeiter im Felde, so durfte er nur durch das Dorf gehen und Jung und Alt strömte zu seinem Dienste heran, bis das Getreide in der Scheune war. Aber die Hilfeleistung war gegenseitig. Wer immer sich in Bedrängnis befand, der konnte sich vertrauensvoll an ihn wenden, und dann war ihm kein Opfer zu groß und keine Mühe zu schwer.

„Leben und Lebenlassen“ war sein Grundsatz und seine Gewohnheit. Er liebte das Vergnügen, vielleicht etwas mehr, als für ihn und die Seinigen gut sein mochte. Besonderes Behagen fand er an den lustigen Gelagen mit Wein und Kartenspiel, welche damals die beliebteste Festunterhaltung der wohlhabenderen Bauern des Rheinlandes bildete. Jede Pfarre hatte ihre jährliche „Kirmeß“, welche dem Essen, Trinken, Spielen und Tanzen geweiht war. Die Feier dauerte regelmäßig drei Tage, wurde aber nicht selten auch über den vierten Tag hinausgesponnen. Zur Kirmeß besuchten die Verwandten und intimeren Freunde einander mit Familie, so daß es für denjenigen, der viele Geschwister, Vettern, Schwäger und liebe Kumpane hatte, den Sommer hindurch der Gelage nicht wenige gab. An jedem Kirmeßtisch nun, seinem eigenen sowohl als denen seiner Freunde, war der Burghalfen die Hauptfigur. Nur wenige Halfen gab es, die er nicht unter den Tisch trinken konnte, und er war ein furchtbarer Kämpe, kam es zum Streit. Das geschah wohl nicht oft, denn er war durchaus nicht zanksüchtig. Aber ich habe doch erzählen hören, wie beim Kirmeßtanz oder sonstiger festlicher Gelegenheit der Burghalfen, wenn er selbst oder einer seiner Freunde beleidigt wurde, mit wuchtigem Fußstoß einen Stuhl zertrümmerte, die Stuhlbeine ergriff und mit dieser Waffe, wie Samson mit dem Eselskinnbacken, die Philister unwiderstehlich vor sich hertrieb. Ferner gab es in den größeren Gemeinden ein jährliches „Vogelschießen“.

Anmerkungen (Wikisource)

  1. Vorlage: sorfältige
Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 004. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s004.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)