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wurde und meine ersten Kinderjahre verlebte. Es ist merkwürdig, wie weit einzelne Erinnerungen in die Zeit der anfänglichen Entwicklung des Bewußtseins zurückreichen. So ist mir ein Bild gegenwärtig, das mich mir selbst im Alter von zwei, höchstens drei Jahren vorführt. An dem von Kastanienbäumen eingefaßten Wege, der von der Burg nach dem Dorfe führte, war ein kleiner von Mauern umschlossener Behälter, in dem der Graf einige Wildschweine hielt; darunter zwei oder drei große Eber mit mächtigen weißen Hauzähnen. Ich sehe mich selbst als kleines Kind im Unterröckchen, mit einem weißen Häubchen auf dem Kopf, auf der Mauer sitzend und mit Vergnügen, aber auch mit Furcht, auf die schwarzen Ungetüme hinunterblickend; neben mir eine Frau, die ihren Arm um mich geschlungen hält, so daß ich nicht hinunterfallen kann; und wie ich da sitze, kommt ein alter Mann mit glänzenden Knöpfen auf dem Rock, spricht mit mir und gibt mir Zuckerbrot. Meine Mutter, der ich im späteren Leben von dieser Erinnerung sprach, sagte mir, der Mann sei gewiß der alte Bernhard gewesen, der Leibdiener des Grafen, der silberne Knöpfe auf seinem Livreerock hatte, und der es liebte, sich mit mir zu tun zu machen und mir Süßigkeiten vom „Hause“ zu bringen. Nach dem Todesjahre des alten Bernhard gerechnet, könne ich damals höchstens in meinem dritten Jahre gewesen sein.

Ein anderes Bild steht mir ebenso lebendig vor Augen. Ein Abend im Familienzimmer, der „Stube“; eine Lampe mit einem grünen Schirm auf dem Tisch; ich sitze auf meines Großvaters Knie und er gibt mir Milch aus einem Glase zu trinken; ich verlange mehr; mein Großvater läßt einen großen mit Milch gefüllten Zuber bringen und auf den Tisch stellen; dann zieht er mir mit seinen eigenen großen Händen die Kleider aus und setzt mich nackt in den Zuber, in welchem mir die Milch beinahe bis an den Mund hinaufreicht; nun sagt er mir, ich möge trinken so viel ich wolle, er sieht zu, wie ich den Mund öffne, um die Milch hineinfließen zu lassen und lacht aus vollem Halse, und wie ich nun, nachdem ich genug getrunken, anfange, in der Milch mit den Händen zu platschen und ihn über und über bespritze, läßt er sich auf einen Stuhl fallen und lacht immer unbändiger.

Noch andere Bilder sehe ich: Die Schafherde mit den Lämmern kommt abends heim und drängt sich blökend in ungestümer Eile durch den Torweg in den Hof; ich sehe zu, auf dem Arm meiner Mutter sitzend; der alte Schäfer tritt heran, um mir die kleine blanke Wurfschaufel am Ende seines langen Stabes zu zeigen, nach der ich meine Hände ausgestreckt hatte; aber das finster faltige Gesicht des alten Mannes mißfällt mir, und ich schmiege mich an die mütterliche Schulter.

Mit besonderem Behagen gedenke ich noch des großen Kuhstalles, welcher wie eine Kirche gebaut war, mit einem hohen spitzbogig gewölbten Mittelschiff und zwei niedrigeren Seitenschiffen, in denen die Kühe standen. Meine Mutter, die an der Milchwirtschaft viel Vergnügen fand, nahm mich zuweilen mit in den Stall, wenn sie hinging, um zu sehen, daß den Tieren ihr Recht geschah. Wie warm war es da an den Winterabenden! Ich saß dann wohl auf einem Haufen Heu oder Stroh im matten Licht der Laternen, die von den hohen Bogen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 007. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s007.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)