Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s008.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

des Mittelschiffes herabhingen; und so lauschte ich dem dumpfen, leisen Geräusch, das, von den wiederkäuenden Kühen herkommend, den weiten Raum mit einer eigentümlichen Wohligkeit erfüllte, und dem Geschwatz und Singen der Mägde, die geschäftig hin- und hergingen und die Kühe bei ihrem Namen riefen.

Meine Mutter erzählte mir später, daß ich damals eine sehr aufregende Liebesaffäre gehabt habe. Der Graf hatte eine Tochter, die zu jener Zeit etwa 18 oder 19 Jahre alt und sehr schön war. Die junge Gräfin Marie pflegte, wenn sie mir auf ihren Spaziergängen begegnete, die roten Pausbacken zu streicheln und mich vielleicht auch sonstwie zu liebkosen, wie junge Damen das zuweilen mit ganz kleinen Knaben zu machen pflegen. Die Folge war, daß ich mich heftig in die junge Gräfin verliebte und offen erklärte, sie heiraten zu wollen. Meine Absichten waren also durchaus ehrlich. Die Gräfin Marie schien aber die Sache nicht so ernst zu nehmen, und das führte zu einer Katastrophe. Eines Tages sah ich sie mit einem jungen Mann an einem Fenster des Herrenhauses stehen, damit beschäftigt, mit einer Angel im Burgweiher Karpfen zu fangen. Eine wütige Eifersucht ergriff mich. Ich verlangte schreiend, der junge Mann müsse sich sofort von der geliebten Gräfin Marie entfernen, widrigenfalls man ihn ins Wasser werfen solle. Ich ergrimmte noch mehr, als der junge Mann nicht allein nicht fortging, sondern sogar mich auszulachen schien. Ich tobte und brüllte so laut, daß die Burgleute um mich her zusammenliefen, um zu sehen, was da los sei. Ich erzählte es ihnen unter heißen Tränen, und nun lachten die auch, was mich noch wütender machte. Endlich kam die gute alte Köchin des Grafen auf einen gesunden Gedanken. Sie führte mich in die Küche, wo sie mir einige Löffel Quittengelee zu essen gab. Quittengelee war mir ein ganz neuer Lebensgenuß und hatte auf meinen Liebesschmerz eine merkwürdig beruhigende Wirkung. Soweit die Erzählung meiner Mutter. Quittengelee ist auch seit jener Zeit meine Lieblingsleckerei geblieben.

Die Burg hatte auch ihren Schrecken für mich. Es war der ausgestopfte Kopf eines Rehbocks mit Hörnern und besonders großen Augen, welcher die Wand über einem Treppenaufgang am Ende eines langen Ganges schmückte. Ich weiß nicht und habe wahrscheinlich nie gewußt, warum mir dieser Rehkopf so fürchterlich war; aber gewiß war er es, und wenn ich ihn passieren mußte, so lief ich, so schnell mich meine kleinen Beine tragen wollten.

Auch höre ich noch das Waldhorn Hermanns, des Leibjägers des Grafen, der an schönen Abenden zuweilen auf der zum gräflichen Hause vom Hofe hinaufführenden Brücke saß und muntere Lieder blies, die von den Mauern und Türmen widerhallten. Hermann war mir eine imposante Persönlichkeit, denn ich hatte ihn ein paarmal, wenn er den Grafen bei festlicher Gelegenheit begleitete, in großer Uniform gesehen mit glänzenden Goldlitzen an den Kleidern, einem Hirschfänger an der Seite und einem großen Federbusch auf dem Kopfe. Er nahm ein übles Ende, der arme Hermann. Eines Tages fand man ihn tot im Walde, von Wilddieben erschossen, – die erste tragische Sensation meines Lebens. Die Mörder sind niemals entdeckt worden, aber ich

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 008. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s008.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)