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welche die Ermahnung nie zu langweiligen Predigten werden ließen. Auch suchte er meine Ambition zu wecken und anzuspornen, indem er mir in glühenden Farben das Glück der gelehrten Erziehung beschrieb, die mir werden sollte; und dann ließ er in der Schilderung der Zukunft, die sich mir auftue, seiner Phantasie vollends die Zügel schießen.

Seine Ahnung eines frühen Todes hatte Meister Jurges leider nicht betrogen. Mein guter Freund überlebte jene Zeit nicht lange. Während ich auf dem Gymnasium war, starb er an der Schwindsucht. Ich habe ihm stets ein warmes Andenken bewahrt.

Der Eindruck dessen, was er mir über religiöse Dinge gesagt, wurde durch andere Vorkommnisse verstärkt. Ich kam wirklich zu dem Entschluß, soweit ein Kind einen solchen fassen kann, daß, wenn ich studierte, es nicht „auf Geistlich“ sein sollte. Freilich rechnete bei der katholischen Bevölkerung am Niederrhein eine Familie, die einen „geistlichen Herrn“ zu ihren Mitgliedern zählte, sich das zu großer Ehre. Aber dies galt doch meist nur von dem weiblichen Teil unseres Kreises. Während die Frauen der Kirche frommgläubig anhingen, waren die Männer all mehr oder minder von dem „freisinnigen Zeitgeist“ berührt, und mein Ohm Ferdinand, der Voltairianer, ließ es sogar an kühnen Spöttereien nicht fehlen. Diese wirkten allerdings auf mein kindliches Gemüt keineswegs anziehend. Es schien mir verwegen, von den Dingen, die mir in Kirche und Schule und von der Mutter als hoch und heilig eingeprägt wurden, in leichtfertigen Redensarten zu sprechen. Mein Vater, der zwar, wie schon erzählt, ebenfalls seinen Voltaire und Rousseau gelesen hatte und unter seinen Büchern besaß, verfiel auch niemals in diesen Ton. Ebensowenig gab er sich Mühe, mich ableitenden Einflüssen gegenüber bei der Strenggläubigkeit festzuhalten.

Im Religionsunterricht wie auf der Kanzel hatte ich den Pastor wiederholt sagen hören, die katholische sei die allein seligmachende Religion und alle Andersgläubigen, Protestanten, Juden und Heiden, seien unrettbar dem ewigen Höllenfeuer verfallen. Protestanten gab es nun in unserem Dorfe und der Umgegend keinen einzigen. In der Tat konnten wir Kinder uns einen „Calviner“, wie dort die Protestanten gewöhnlich genannt wurden, kaum vorstellen; und als einmal ein durchreisender Fremder, ein preußischer Beamter, mir als Protestant bezeichnet wurde, betrachtete ich ihn zuerst mit halb furchtsamer, halb mitleidiger Scheu, und war dann sehr erstaunt, in ihm einen sehr würdig und angenehm aussehenden Mann zu finden. Einen Juden hatten wir im Dorf, der das Metzgerhandwek betrieb, und von dem wir und unsere Nachbarn einen großen Teil unseres Fleischbedarfs bezogen. Aber sonst kam man nicht mit ihm in Berührung. Dagegen sah ich einen anderen Juden namens Aaron, der in einem benachbarten Dorf wohnte, nicht selten in unserm Hause, und ich bemerkte, daß mein Vater sich bei jedem seiner Besuche in freundschaftlicher Weise mit ihm über allerlei Dinge unterhielt. Das wunderte mich. Aber mein Vater sagte mir, der alte Aaron, dessen Gesicht mir in der Tat immer besonders ernst und würdevoll vorgekommen war, sei nicht allein ein guter und rechtschaffener, sondern auch ein sehr kluger und aufgeklärter, ja, ein weiser Mann – rechtlicher, tugendhafter und weiser als mancher Christ. – Die Frage,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 021. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s021.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)