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ob nun auch ein so guter Mann wie Aaron durchaus zum ewigen Höllenfeuer verdammt sein werde, gab mir viel zu denken. Ich konnte mir das mit der Allgerechtigkeit Gottes nicht zusammenreimen. Bald machte mich mein Vater mit Lessings „Nathan der Weise“ bekannt, und die Lehre der Duldsamkeit, welche diese Dichtung so anziehend darstellt, und die mein Vater mir passend erläuterte, gewährte mir große Befriedigung, ohne daß ich mir bewußt gewesen wäre, wie bedenklich sie einen der Grundpfeiler des allein seligmachenden Glaubens erschütterte.

Ein anderes Ereignis brachte weitere Erschütterung. Der Dorfschullehrer, der in meines Vaters Stelle getreten war, nahm sich mit einer Schülerin, einer Verwandten unserer Familie, unerlaubte Freiheiten heraus. Das Mädchen erzählte zu Hause, was vorgefallen war. Die Mutter und Geschwister – der Vater war gestorben – suchten den Lehrer zur Rechenschaft zu ziehen; der Lehrer leugnete, und die ganze Gemeinde spaltete sich in zwei Parteien – auf der einen Seite der Lehrer, unterstützt vom Pastor, dem gräflichen Hause und einem großen Teil der Dorfbevölkerung, auf der andern Seite unsere Familie mit einigen Freunden. Der Streit wurde sehr bitter, wie das bei solchen Dorfkriegen oft der Fall ist, und führte zu heftigen Zänkereien – einmal gar zu einem förmlichen Auflauf mit hartnäckigem und keineswegs unblutigem Prügelgefecht, dem der einzige Polizist nicht steuern konnte. „Es ist Revolution im Dorf“, sagten die Leute. Das war das erstemal, daß ich dies Wort „Revolution“ hörte. Auf der Gegenseite zeichnete sich besonders der Pastor durch das Herumtragen ehrenrühriger Verleumdungen gegen Mitglieder unserer Familie aus. Dies ging so weit, daß selbst meine Mutter, die sanfteste aller Frauen, in große Aufregung geriet, und eines Tages hörte ich sie, die Frömmigkeit und Wahrheitsliebe selbst, den Pastor persönlich zur Rede stellen und ihm ins Gesicht sagen, er sei ein böser Mensch – worauf der geistliche Herr beschämt davon schlich. In meiner Vorstellung war der Priester als Diener, Vertreter und Wortführer Gottes ein heiliger Mann gewesen. Und nun aus dem Munde meiner Mutter, die nur die Wahrheit sagen konnte, zu hören, daß der Pastor gelogen habe und ein böser Mensch sei – das war eine gefährliche Offenbarung. Es beunruhigte mich sehr, den Predigten des Pastors keinen unbedingten Glauben mehr schenken zu können, und wenn ich, was zuweilen geschah, bei der Messe als Chorknabe diente und denselben Mann in der heiligen Handlung begriffen vor mir sah, so ergriff mich oft ein großes Unbehagen. Sonst gingen jedoch meine religiösen Observanzen fort wie vorher.

Der ärgerliche Parteizwist über den Schullehrer hatte weitere böse Folgen, die sich anfangs nicht voraussehen ließen. Der Schullehrer, der im Unrecht war, mußte zwar weichen, aber der Zank seinetwegen störte die Beziehungen zwischen meinem Großvater und seinem Pachtherrn, die bis dahin stets sehr freundlich gewesen waren. Das damalige Stammhaupt des gräflichen Hauses Wolf-Metternich war älter als mein Großvater, eine stattliche Gestalt, sechs Fuß hoch und noch ungebeugt von den Jahren, Haupthaar und Backenbart silberweiß. Er war auch ein guter Herr, ein „Edelmann vom alten Schlage“, stolz darauf, alte Diener und alte, wohlhabende und zufriedene Pächter zu haben. Die

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 022. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s022.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)