Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s026.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

anderer wurde ich auf ähnliche Weise bekannt. So war ich denn, als die Zeit für meinen Eintritt in die unterste Klasse des Gymnasiums kam, im Punkte der Belesenheit wie in anderen Richtungen anständig vorbereitet.

Die in meinem heimatlichen Dorfe und in Brühl verlebten Jahre meiner Kindheit waren durch Schicksalsschläge verdunkelt worden, von denen ich einige schon erwähnt habe – die Lähmung meines Großvaters, den Abzug von der Burg, den Tod der Großeltern und das frühzeitige Hinscheiden meines Bruders. Ich muß noch ein Vorkommnis hinzufügen, das zwar von geringerer Bedeutung war, aber in einer wahrheitsgetreuen Erzählung nicht verschwiegen werden darf. Mein Vater, der mich sehr liebte und seinen Stolz auf mich gesetzt hatte, hielt streng darauf, daß ich als Schüler meine Pflicht tat. Am Ende jeder Woche mußte ich ihm von jedem meiner Lehrer in Brühl ein schriftliches Zeugnis über mein Verhalten bringen. Diese Zeugnisse waren immer gut. Nur einmal hatte ich mich durch ein gar zu schönes Räuberspiel mit meinen Schulgenossen in Brühl verleiten lassen, die Vorbereitung meiner lateinischen Lektion zu versäumen, und dieses Verbrechen wurde vom Kaplan in meinem Zeugnisbuche ordnungsmäßig vermerkt. Schämte ich mich meines Fehlers, oder fürchtete ich meines Vaters Strenge – kurz, als ich Samstags nach Hause kam, suchte ich meinen Vater glauben zu machen, der Kaplan habe mein Zeugnis zu schreiben vergessen, oder etwas dergleichen. Mein unsicheres Wesen überzeugte meinen Vater sogleich, daß da etwas nicht richtig sei, und ein paar Fragen brachten mich dazu, den wahren Sachverhalt zu gestehen. Da entspann sich denn folgendes Gespräch: „Du hast Deine Pflicht versäumt und Du hast mir die Wahrheit verbergen wollen. Verdienst Du nicht Schläge?“

„Ja, aber ich bitte, laß uns in den Kuhstall gehen, wo uns niemand sehen und hören kann.“

Diese Bitte wurde mir gewährt. In der Einsamkeit des Kuhstalls erhielt ich meine Züchtigung, die jedoch nicht schwer ausfiel, und niemand erfuhr etwas davon. Auch verzieh mir dann mein Vater und behandelte mich wie zuvor. Aber das bittere Bewußtsein der durch eigene Schuld verdienten Demütigung schleppte ich doch noch eine Weile mit mir herum als eine schwere Last und lange wollte ich den Kuhstall, den Schauplatz meiner Schmach, nicht mehr betreten, wenn ich nicht mußte.

Aber bei alledem war meine Kindheit im ganzen doch eine sonnige, glückliche Zeit gewesen, bei der die Erinnerung gerne verweilt, und deren weitere Beschreibung in etwas breiter Ausführlichkeit mir verziehen werden muß. Ich schätze mich glücklich, meine früheste Jugend auf dem Lande verlebt zu haben, wo der Mensch nicht allein der Natur, sondern auch dem Menschen näher steht, als in dem Häuserpferch und dem Gedränge der Stadt. Ebenso schätze ich mich glücklich, in einfachen, bescheidenen Verhältnissen aufgewachsen zu sein, die den Mangel nicht kannten, aber auch nicht den Überfluß; die keine Art von Luxus zum Bedürfnis werden ließen; die es mir natürlich machten, genügsam zu sein und auch die kleinsten Freuden zu schätzen; die meine Genußfähigkeit vor dem Unglück

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 026. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s026.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)