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einsamen Gängen, auf denen das Reh, der Fuchs und der Hase an mir vorüberhuschten, lernte ich dann den Wald lieben und fühlte den ganzen Zauber der Waldeinsamkeit mit der geheimnisvollen Stille unter dem Laubdach und dem wunderbaren Flüstern des Windes in den hohen Wipfeln. Bald war es mir weniger um den Vogelfang zu tun, als um den Genuß des Verweilens im tiefen Walde, und selbst auf meinem Wege nach und von der Schule in Brühl vermied ich zuletzt die breite Straße und ging rechts oder links davon durchs Holz, wo immer ich einen Pfad finden konnte. Diese Liebe für den Wald hat mich niemals verlassen und oft im spätern Leben bei dem Anblick einer schönen Landschaft oder des Meeres habe ich mir die Frage gestellt, ob nicht das, was ich im Walde gesehen, doch schöner war, als dies alles.

Der Sommer war für uns die Zeit der Feste. Schon im Mai fand die „Kirmeß“ in Lind bei Ohm Peter statt, und im Spätherbst die Kirmeß in Herrig bei Ohm Rey; und dazwischen lagen noch mehrere Kirmessen auf andern „Höfen“ bei Vettern und Basen. Dann zog die ganze Familie aus bis zu den jüngsten Kindern hinunter. Da bei solchen Gelegenheiten die zweirädrige Chaise nicht ausreichte, so wurde denn der „Kirmeßkarren“ herausgebracht, ein gewöhnlicher Karren, über den man zum Schutz gegen Sonne und Regen auf großen Reifen ein Leintuch spannte. Als Sitze dienten einige querüber befestigte Bretter, oder auch nur Strohbündel und die Zahl der Menschen, die der Kirmeßkarren fassen konnte, schien ohne Grenzen zu sein. Das Pferd oder, wenn die Wege schlecht waren, die Pferde, prangten im besten und blanksten Messingzeug, und das Fuhrwerk wurde mit grünen Zweigen geschmückt. Schon die Fahrt war uns Kindern ein Fest. Dann fanden wir bei der Kirmeß einen Schwarm von verwandten Knaben und Mädchen, die, wie wir, während der festlichen Tage volle Freiheit genossen. Bei dem Mittagsmahl, an welchem die älteren Gäste gewöhnlich vier bis sechs Stunden saßen, hielten wir es nicht lange aus. Nur wenn zur Unterhaltung der Schmausenden sich ein Taschenspieler produzierte, wie zum Beispiel Janchen von Amsterdam, der auf den Höfen jener Gegend eines großen Rufes als Tausendkünstler genoß, ließen wir uns auch wohl länger fesseln. Dann ging’s zu den Krambuden auf den Straßen des Dorfs, die mit ihren Honigkuchen, wohlfeilen Spielzeugen und Drehbrettern bei der Kirmeß niemals fehlten, und abends „an die Musik“, wie man dort das zum Tanz gehen nannte. Vom Tanzen zogen sich die älteren Gäste und die Kinder gewöhnlich zurück – die älteren, um ihr Kartenspiel zu beginnen, das häufig bis zum Sonnenaufgang des nächsten Tages dauerte – und die Kinder, um sich zur Ruhe zu begeben. Aber diese Ruhe war wieder ein Fest besonderer Art. Da das Haus bei solchen Gelegenheiten immer mehr Gäste hatte, als es in seinen Betten unterbringen konnte, so wurde den sämtlichen Knaben ein Zimmer angewiesen – der ganze Fußboden mit Stroh und das Stroh mit Leintüchern, Wolldecken und Kissen bedeckt. Wenn eine solche Schlafstelle einem Dutzend Knaben als Schauplatz ihres Wirkens angewiesen wurde, so begann natürlich für sie der Hauptspaß des Tages, der denn auch unter dem heitersten Lärmen fortgesetzt wurde, bis einer nach dem andern vor Müdigkeit umsank und einschlief.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 028. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s028.jpg&oldid=- (Version vom 27.8.2021)