Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s030.jpg

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altertümliche Spieße trugen, auch mit Sträußen und Bändern geschmückt; dann zwischen zwei Vorstehern der Gesellschaft der vorjährige Schützenkönig mit einer aus künstlichen Blumen und Flittergold gemachten Krone auf dem Hut und einer schweren silbernen Kette um den Hals. An dieser Kette war eine Menge fast handgroßer silberner Schilder befestigt, die Namen der Schützenkönige wohl eines Jahrhunderts tragend, und von diesen der Brüderschaft geschenkt. Die Zahl dieser Schilder war so groß, daß sie Schultern, Rücken und Brust des Mannes bedeckten und ihm ein sehr stattliches Aussehen gaben. Dem König folgten nun die Schützen mit ihren Büchsen, dann der Rest der Bevölkerung, alt und jung, zu beiden Seiten oder hinterher. Sobald der Zug auf dem Schießplatz angekommen, marschierte er dreimal um den Baum, der die Vogelstange trug; dann machte er halt, man kniete nieder und betete ein Vaterunser. Darauf schlug der Trommler einen Wirbel, der alte Schützenkönig hing Krone und Schilderkette an einem Baumstamm auf, die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft und die Alten, die nicht selbst schießen konnten, wählten sich gegenwärtige Schützen als Vertreter, und das Schießen begann. Hahnen Drickes beobachtete jeden Schuß mit pflichtgetreuer Aufmerksamkeit, denn nach jedem Treffer hatte er einen Wirbel zu schlagen. Wenn dieser Wirbel recht kräftig war, so belohnte der glückliche Schütze den Trommler wohl mit einem Glase Wein, und es muß zugestanden werden, daß gewöhnlich von der Menge dieser Gläser das Gesicht des braven Drickes immer röter und sein Trommelschlag immer wilder wurde. Die Menge, die sich mittlerweile den Krambuden und Schanktischen zugewendet hatte, drängte sich wieder um die Schützen zusammen, wie der hölzerne Vogel anfing zu splittern. Von Minute zu Minute stieg die Aufregung, alte Fernröhre wurden hervorgeholt, um die schwachen Stellen da oben zu entdecken, und die Spannung wurde atemlos, wenn, wie es zuweilen geschah, nur noch ein kleiner Holzfetzen an der eisernen Spitze der Vogelstange hing und der nächste wohlgezielte Schuß das Schicksal des Tages entscheiden mußte. Fiel endlich das letzte Stück, dann schlug Hahnen Drickes den furchtbarsten aller Trommelwirbel, die Menge umdrängte mit lärmenden Hochrufen den Sieger, die Vorsteher befestigten dem neuen Schützenkönig die Krone auf dem Hut und hingen ihm die Schilderkette um die Schultern, und nun war auch für den Schneider Schäfer, den „jungen Fänt“ der Augenblick gekommen, zu zeigen, was der Fähnrich von Liblar zu tun vermochte. Er schwang die Fahne um sich her, daß die Umstehenden erschreckt zurückwichen, schwang sie über seinen Kopf, schwang sie wie ein Rad um seinen Leib, schwang sie um seine Beine, schwang sie auf und nieder und hin und her zu der Begleitung von Hahnen Drickes rasender Trommelmusik, bis ihm die Adern am Kopf zu springen drohten. Ich habe ihm mehrmals mit Erstaunen zugeschaut und gedacht, Größeres könne in diesem Fach wohl nie geleistet werden – obgleich ich mich der kopfschüttelnden Bemerkung eines alten Bauern erinnere, der dieses Schauspiel gedankenvoll beobachtete: „Dat es noch nicks jän der ohle Fänt.“ (Das ist noch nichts gegen den alten Fähnrich.) Dann marschierte man wieder dreimal um die Vogelstange – diesmal ohne Gebet – und der Zug

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 030. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s030.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)