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Als ich die Tertia des Gymnasiums erreicht hatte, begünstigte mich das Schicksal wieder, indem es mich mit einem anderen ausgezeichneten Lehrer in nähere Beziehungen brachte. Es war dies Professor Wilhelm Pütz, der sich besonders als Lehrer der Geschichte hervortat. Er konnte sich wohl keiner großen historischen Forschungen rühmen, die er selbst gemacht, aber er besaß ein seltenes Geschick, bei seinen Schülern die Lust an seinen Unterrichtsgegenständen anzuregen und zu weiteren Studien den Weg zu zeigen. Er hatte ein Handbuch geschrieben, das in dürrer Kürze die historischen Tatsachen und Verhältnisse angab und, in mehrere Bände eingeteilt, sich von den frühesten Perioden auf die neueste Zeit ausdehnte. Seine Lehrmethode war folgende: Einen großen Teil der Stunde brachte er damit zu, das geschichtliche Material, das er uns einprägen wollte, in freier Rede vorzutragen und dabei allgemeine Gesichtspunkte aufzustellen und soviel Detail einzufügen, wie erforderlich war, um seinen Vortrag nicht allein belehrend, sondern auch dramatisch und pittoresk und damit anziehend und leicht erinnerlich zu machen. Das so Vorgetragene hatte nun der Schüler in sich zu verarbeiten. Die dürren Angaben des Handbuchs dienten ihm dabei als Grundriß, um danach seine Erinnerung an die Einzelheiten des gehörten Vortrags aufzubauen. In der nächsten Lehrstunde hatten dann die Schüler, wie der Lehrer sie aufrief, das Gehörte ebenfalls in freiem Vortrage zu wiederholen und, sozusagen, in ihrer eigenen Sprache aus sich heraus zu reproduzieren. Von Zeit zu Zeit faßte er das Gelehrte in größeren Perioden in umfassendem und übersichtlichem Vortrage zusammen. So prägte sich dann die Geschichte nicht tabellenhaft oder anekdotisch, sondern periodenweise lebensvoll und von einem philosophischen Lichte erhellt der Phantasie und somit auch dem Gedächtnisse des Lernenden ein. Mir wurde dadurch die Geschichtsstunde und das damit zusammenhängende Studium, für das ich immer besondere Neigung gefühlt, statt einer Arbeit ein wahres Vergnügen, das sich mir nicht oft genug wiederholen konnte. Auf diese Weise wurde es mir möglich, daß, als ich einige Jahre später im Abiturientenexamen stand und Professor Pütz mich fragte, ob ich mich wohl getraue, die Geschichte der Regierung Alexanders des Großen frei darzustellen und die Karte zu den Feldzügen auf die große Tafel zu zeichnen, ich diese Aufgabe unbedenklich unternahm und befriedigend löste.

Pütz zog mich bald, nachdem ich sein Schüler geworden, näher an sich heran, und es entspann sich zwischen uns ein Verhältnis von freundschaftlicher Vertraulichkeit. Die für seine Lehrbücher empfangenen Honorare hatten ihn in den Stand gesetzt, während der großen Ferien Reisen in fremde Länder zu machen, viele merkwürdige Dinge zu sehen, Bekanntschaft mit bedeutenden Persönlichkeiten anzuknüpfen, und somit seinen Gesichtskreis über das bei Gymnasiallehrern gewöhnliche Maß hinaus zu erweitern. So hatte er in seinen Anschauungen etwas Weltbürgerliches gewonnen und galt in religiöser sowohl wie politischer Beziehung als ein „Aufgeklärter“. Da er uns eine Zeitlang auch den deutschen Unterricht gab und in meinen Aufsätzen Spuren einer mit der seinigen verwandten Denkweise entdecken mochte, so behandelte er mich fast wie einen jungen Kameraden, dem er erlaubte, in

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 044. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s044.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2021)