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nur einige seiner Tropenbilder; von Gutzkow, Laube, Herwegh usw. gar nichts. Petrasch lieh mir Heines Buch der Lieder. Das war mir wie eine neue Offenbarung. Ich fühlte fast, als hätte ich nie vorher ein lyrisches Gedicht gelesen, und doch klang mir von Heines Liedern manches, als hätte ich es schon längst gekannt, als hätten die Feen es mir an meiner Wiege gesungen. Unverzüglich flog alles, was ich bis dahin an Versen geschrieben hatte, und das durchweg von der hochtrabenden deklamatorischen Sorte war, ins Feuer, und ich sah es mit Lust brennen. Das Lesen und Wiederlesen des Buchs der Lieder war mir eine unbeschreibliche Schwelgerei. Dann ging ich an die neuen Lieder, die Reisebilder, das Wintermärchen, Deutschland und den Atta Troll mit ihrer ätzenden politischen Satire, deren Witz dem Gemüt nicht wohl tat, aber die Gedanken auf den Zustand des Vaterlandes lenkte. Ferner las ich mit meinen Freunden auch Gedichte der revolutionären Himmelsstürmer, wie Herwegh, Hoffmann von Fallersleben und anderer, die wir meist nur in Abschriften besaßen.

Die revolutionären Leidenschaften die in einigen derselben Ausdruck fanden, waren uns allerdings in Wirklichkeit fremd. Aber die Angriffe auf die bestehenden Regierungen, besonders die preußische, schlugen doch eine Seite an, die in der Brust des Rheinländers leicht wiederklang. Jenes Stück des Rheinlandes mit seiner fröhlichen, leichtlebigen Bevölkerung hatte innerhalb einer verhältnismäßig kurzen Periode allerlei bunte Schicksalswechsel erfahren. Vor der französischen Revolution hatte es unter der gemütlich-liederlichen erzbischöflich-kurfürstlichen Herrschaft gestanden. Dann, von französischen Heeren erobert, gehörte es eine Weile zu der französischen Republik und dem Kaiserreich. Endlich im Jahre 1815 wurde es zu Preußen geschlagen. Von diesen drei Herrschaften, deren rasche Aufeinanderfolge ein Gefühl wahrer Loyalität nicht aufkommen ließ, liebte der Rheinländer die preußische am wenigsten, obgleich sie unzweifelhaft bei weitem die beste war. Das kurz angebundene, autoritätssüchtige preußische Wesen, die stramme preußische Ordnung sagten dem etwas leichtsinnigen rheinischen Volk nicht zu. Dann war das Volk dieses Landesteils fast ausnahmslos katholisch, während der Begriff Preußen den Begriff Protestantismus in sich schloß. Überdies kamen altpreußische Beamte in ansehnlicher Zahl ins Rheinland, um die Rheinländer regieren zu helfen, und das setzte natürlich böses Blut. All diese Dinge liegen ließen die preußische Herrschaft am Rhein wie eine Art von Fremdherrschaft erscheinen, die, wie das fast immer der Fall ist, von Anfang an dem Gefühl der Eingeborenen widerstrebte. Im Laufe der Zeit sah man allerdings ein, daß die ehrliche und gut geregelte preußische Administrationsweise sehr große Vorzüge besaß. Aber die dem Rheinländer angeborene Oppositionslust war nun einmal angestachelt; der preußische Beamte blieb ein „hungriger Preuß“, und das Wort „Preuße“ überhaupt galt im Volksmunde als ein ziemlich ehrenrühriges Schimpfwort. In der Tat, wenn in einer Zänkerei von Schulknaben der eine den andern einen „Preußen“ gescholten hatte, so hielt es schwer, noch einen höhern Trumpf zu finden. Das sollte allerdings infolge der nationaldeutschen Einheitsbestrebungen und besonders der politischen Erregungen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 048. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s048.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)