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Lustige Tage gab es während der Schulferien, die ich, wenn nicht gerade Ausflüge zu den verschiedenen Oheimen gemacht wurden, in Liblar zubrachte. Dazu fanden sich häufig die Vettern von Lind, Herrig und Jülich zusammen, zuweilen gar verstärkt durch Schulfreunde von Köln. Das war die Zeit des Austobens, und sie wurde redlich benutzt. Die Alten der Familie freuten sich an den Jungen und mit ihnen. Zwei Vorkommnisse meines Ferienlebens sind mir besonders lebhaft im Gedächtnis geblieben. Ein „studierender“ Junge ist in einem Dorfe immer eine Art von Merkwürdigkeit, und es wird ihm manches Ungewöhnliche erlaubt. Nun war mein Vater auf meine Fortschritte recht stolz und mochte gern meine Talente den Nachbarn vorführen. Mit dem Lateinischen und Griechischen und mit meinen literarischen Leistungen, die ich übrigens auch gewöhnlich für mich behielt, ging das natürlich nicht; so versuchte er es denn auf dem musikalischen Felde. Mein Klavierspielen hatte ich fortgesetzt und auch etwas Generalbaß studiert. Besonderes Vergnügen machte es mir, auf dem Instrument zu improvisieren. Mein Vater, der daran großen Gefallen fand, meinte nun, so gut wie auf dem Klavier würde das auch vor dem versammelten Volk auf der Kirchenorgel gehen; und so beredete er den alten Organisten, der selbst ein sehr schwacher Musiker war, mich während der Messe an einer passenden Stelle ein Zwischenspiel oder am Schluß des Gottesdienstes während des Hinausgehens der Gemeinde ein Stück spielen zu lassen. Dies geschah, nicht etwa einmal, sondern oft, da es den Dorfleuten wohl zu behagen schien und der brave Organist keine Künstlereifersucht kannte. An einem Festtage, als der Graf Metternich mit seiner Familie in seiner Kapelle am Chor dem Gottesdienste beiwohnte und die Gemeinde ungewöhnlich zahlreich versammelt war, hielt ich es für angemessen, etwas Besonderes zu leisten. Beim Schluß der Messe also zog ich alle Register auf und spielte einen Marsch, den ich auf dem Neumarkt in Köln bei einer Wachtparade gehört und im Gedächtnis behalten hatte, mit so donnerndem Effekt, daß die Gemeinde, die bereits aufgestanden war, um die Kirche zu verlassen, wie von Erstaunen gebannt stehen blieb und der Graf aus seiner Kapelle hervortrat, als ob er zusehn wollte, was da eigentlich los sei. Als ich endlich schloß, meinten die Dorfleute, das sei einmal etwas Rechtes gewesen, und so etwas habe man in Liblar nie gehört. Dies war der Höhepunkt meiner Laufbahn als Orgelspieler. Sie sollte bald ein jähes Ende nehmen. Eines Sonntags wurde mir erlaubt, den Chor, der aus dem Küster und drei oder vier Sängern bestand, bei der Vesper zu begleiten. Der Regel gemäß fügte der Organist zwischen je zwei gesungenen Versen eine kurze Improvisation als Zwischenspiel ein. Dabei ließ ich nun meiner Kenntnis im Generalbaß freien Lauf. Einmal begann ich mein Zwischenspiel in der Tonart, in welcher der Chorgesang lag, schloß es aber eine Terz höher, um dann mit einem kühnen und raschen Übergang auf die ursprüngliche Tonart zurückzugehen. Auf solche Künste waren nun der Küster und seine Chorgänger nicht eingeübt. Sie wollten meinem kühnen Übergang nicht folgen, sondern setzten ihren Chor eine Terz höher ein, als sie es gewohnt waren und schrien dabei, daß sie rot im Gesicht wurden und ihnen die Kopfadern

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 054. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s054.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)