Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s055.jpg

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zu springen drohten. Nach der Vesper erklärte der Küster höchst entschieden, mit den künstlichen Improvisationen und dem Generalbasse sei es nichts; dieser Unfug müsse aufhören, und der alte Organist sei ihm viel lieber. So war es denn mit meiner Glorie als Orgelspieler in Liblar für immer aus.

Auf einem andern Felde erfüllte sich mir ein ehrgeiziger Wunsch. Sehr früh hatte ich schießen lernen und es darin zu einer ziemlichen Geschicklichkeit gebracht. Als ich nun Sekundaner geworden war, und mir eine Kugelbüchse in die Hände fiel, die irgend einem Mitgliede unserer Familie gehört hatte, hielt ich die Zeit für gekommen, mich als vollgültigen Schützen an dem Vogelschießen der Sankt Sebastianus-Brüderschaft zu beteiligen. Ich ließ mich also in die Liste einschreiben, bot mich mehreren Mitgliedern, männlichen und weiblichen, als Vertreter beim Schießen an, und wurde in den meisten Fällen angenommen. Das Kugelgießen am Samstag vor Pfingsten war einer der feierlichsten Akte meines Lebens; und als ich mit Sonnenaufgang am Pfingstmontage aufwachte, fühlte ich, als sei für mich ein Tag großer Entscheidung angebrochen. Mit tiefem Ernst marschierte ich am Nachmittage hinter Hahnen Drickes, dem Trommler, und Schneidermeister Schäfer, dem „Fänt“, in den Reihen der Schützen nach dem Schießplatz; dem „Felde der Ehre“, wie ich es nannte; und als nach dem dreimaligen Umzuge um die Vogelstange das Gebet kam, war ich vielleicht einer der Inbrünstigsten. Ich hatte sogleich zu Anfang mehrere Schüsse, von denen keiner fehl ging. Hahnen Drickes belohnte mich mit dem üblichen Trommelwirbel, und ich fürchte, ich schaute zuweilen mit einem Blick umher, der Bewunderung suchte. Nur ein Schuß blieb mir noch übrig. Aber der hölzerne Vogel war schon sehr zersplittert, und es wurde mit jedem Augenblicke ungewisser, ob meine Nummer noch erreicht werden würde. Mein Herz schlug hoch. Meine letzte Nummer wurde wirklich noch erreicht. Da oben hing nur noch ein kleiner Fetzen von Holz an der Eisenspitze der Vogelstange. Ich setzte die Büchse an die Schulter mit dem Gefühl, als ob dieser Schuß das ganze Schicksal meiner Zukunft enthalte. Mit mächtiger Anstrengung zwang ich mich zur Kaltblütigkeit; mein Blick blieb wirklich klar und meine Hand fest. Aber als ich abgedrückt hatte, schwamm es mir vor den Augen. Ich hörte nur, wie Hahnen Drickes auf seinem Kalbfell raste und wie die umstehende Menge schrie. Das Große war also geschehen. Ich hatte „den Vogel abgeschossen“. Ich war Schützenkönig! Nicht weit von mir stand mein Vater. Er lachte aus vollem Halse und freute sich offenbar über die Maßen. Nun hängte man mir die große silberne Schilderkette um die Schultern, die mich fast zu Boden drückte, und man setzte mir einen hohen Hut auf mit der alten Flitter- und Blumenkrone. Es war ein stolzer Augenblick. Aber ich hatte den Vogel nicht für mich selbst abgeschossen, sondern nur als Vertreter für eine andere Person. Wer war diese Person? Eine Sankt Sebastianus-Schwester, eine alte Waschfrau. Sie wurde herbeigeholt und auch mit einigen Bändern und Blumen geschmückt. Als meiner Königin mußte ich ihr den Arm geben, und so marschierten wir denn feierlich hinter Trommel und Fahne ins Dorf zurück. Die Schützen knallten mit ihren Büchsen,

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 055. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s055.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)