Seite:Schurz Lebenserinnerungen b1 s059.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

Verlegenheiten. Geldgeschäfte waren mir durchaus fremd und meiner Neigung zuwider. Doch ist die Not ein wunderbarer Schulmeister, und ich hatte die Empfindung, als wäre ich plötzlich um viele Jahre älter geworden. Nach vielem Hin- und Herreisen und unablässigen, sorgenvollen Bemühungen gelang es, die Gläubiger so weit zu befriedigen, daß sie meinen Vater freiließen und sich zu den erforderlichen Akkommodationen bequemten. Das waren schwere Tage.

Als mein Vater wieder imstande war, die geschäftlichen Angelegenheiten selbst in die Hand zu nehmen, warf sich die Frage auf, was nun mit mir geschehen solle. Sollte ich meine Studien aufgeben und eine andere Laufbahn beginnen? Dieser Gedanke wurde sofort verworfen. Aber die Umstände erlaubten nicht, daß ich nach Köln zurückging. Ich mußte bei der Familie bleiben. Es wurde daher der kühne Plan gefaßt, ich solle sofort anfangen, als nicht-immatrikulierter Student Vorlesungen an der Universität zu hören, dabei aber privatim meine Gymnasialstudien fortsetzen und im Herbste des nächsten Jahres das Abiturientenexamen in Köln als „Auswärtiger“ absolvieren. Dieser Plan war deshalb kühn, weil es wohl schwierig erschien, die Gymnasialstudien nebenbei bis auf den erforderlichen Punkt fortzuführen, und weil die „Auswärtigen“ bei dem Abiturientenexamen besonders strenge behandelt zu werden pflegten. Aber ich zauderte nicht, das Wagestück zu unternehmen. Mein Beruf war mir unterdessen auch klar geworden. Ich liebte vor allen geschichtliche und Sprachstudien und glaubte, schriftstellerische Fähigkeit zu besitzen. Ich beschloß also, mich auf eine Professur der Geschichte vorzubereiten. Nach vollendetem Universitätskursus hoffte ich die erwerbslose Privatdozentenperiode bis zur Erlangung einer Professur mit dem Ertrag literarischer Arbeiten überbrücken zu können. So fing ich denn an, philologische und geschichtliche Vorlesungen zu besuchen.

Mein Abschied vom Gymnasium bringt mich zu der früher schon erwähnten Frage zurück, ob nicht der Lehrplan der deutschen Gymnasien, sowie der korrespondierenden Anstalten in andern Ländern, veraltet und unpraktisch geworden sei. Ist es weise, einen so großen Teil der Zeit und der Lernkraft der Schüler auf das Studium des Lateinischen und des Griechischen und der klassischen Literaturen zu verwenden? Würde man nicht der jungen Generation einen größeren Dienst erweisen, wenn man an die Stelle des Lateinischen und des Griechischen das Studium moderner Sprachen und Literaturen setzte, deren Kenntnis in den praktischen Geschäften des Lebens viel nutzbarer wäre? Dieser Frage ist ihre Berechtigung gewiß nicht abzusprechen. Das Lateinische ist nicht mehr, was es in den meisten Ländern der sogenannten zivilisierten Welt bis zum Anfang des achtzehnten Jahrhunderts, ja in einigen bis zu einem viel jüngerem Zeitpunkt war: die Sprache der Diplomatie, des Rechts, der Philosophie, der gesamten Wissenschaft. Nicht einmal die Fähigkeit, lateinische Zitate in die Rede einzustreuen, ist jetzt noch erforderlich, um den gebildeten Menschen zu dokumentieren. Die Literaturen des klassischen Altertums sind nicht mehr die einzigen, in denen wir große Dichterschöpfungen in vollendeter Formenschönheit, Muster der Geschichtschreibung und der Beredsamkeit und Tiefe des philosophischen

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 059. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s059.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)