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oder wissenschaftlichen Gedankens finden. In den modernen Literaturen gibt es reiche Schätze davon, und ebenso von vortrefflichen Übertragungen, die auch demjenigen, der die alten Sprachen nicht versteht, die Meisterwerke des antiken Geistes zugänglich machen.

Und doch – wenn ich mich jetzt in meinen alten Tagen nach vielfacher Lebenserfahrung frage, welchen Teil des Unterrichts, den ich in meiner Jugend empfangen, ich mit dem geringsten Bedauern entbehren würde, so würde meine Antwort keinen Augenblick zweifelhaft sein. Ich habe ja freilich – und leider – von dem Latein und Griechisch, das ich als Schüler wußte, im Lauf der bewegten Zeiten viel vergessen.

Aber die ästhetischen und sittlichen Anregungen, die jene Studien mir gaben, die idealen Maßstäbe, die sie mir errichten halfen, die geistigen Horizonte, die sie mir eröffneten, sind mir niemals verloren gegangen. Jene Studien waren nicht ein bloßes Mittel zur Erwerbung von Kenntnissen, sondern im besten Sinne des Wortes ein Kulturelement. Und so sind sie mir mein ganzes Leben hindurch eine unerschöpfliche Quelle erhebenden Genusses geblieben.

Wäre mir noch einmal die Wahl gegeben zwischen den klassischen Studien und den sogenannten „nützlichen“ an ihrer Stelle, so würde ich, für mich selbst, unzweifelhaft im wesentlichen denselben Lehrplan wählen, den ich durchgemacht habe. Ich würde das um so unbedenklicher tun, als ich die klassischen Studien wahrscheinlich nie im späteren Leben hätte aufnehmen können, hätte ich sie nicht in meinen Gymnasialjahren begonnen, und als die Kenntnis der alten Sprachen mir später auch bei dem Erlernen der modernen von unschätzbarem Vorteil gewesen ist. Wer Lateinisch versteht, wird das Französische, Englische, Spanische, Italienische und Portugiesische nicht allein viel leichter lernen, sondern auch viel besser. Ich kann von mir selbst sagen, daß ich in der Tat nur die lateinische Grammatik ganz gründlich verstanden habe, daß aber diese Kenntnis mir die grammatischen Studien in den modernen romanischen und germanischen Sprachen aller Mühseligkeit entkleidet, ja spielend leicht gemacht hat. – Während ich also dem jetzt so beliebten Nützlichkeitsargument in bezug auf die Veränderung des Lehrplans sein Anrecht auf ernstliche Beachtung keineswegs abspreche, so kann ich doch nicht umhin zu gestehen, daß ich persönlich dem alten klassischen Kursus sehr viel Gutes und Schönes zu verdanken habe, das ich nicht entbehren möchte.

Student an der Universität zu sein, ist der schönste Traum des Gymnasialschülers – das Ziel seiner Sehnsucht. Ich hatte davon keine Ausnahme gemacht. Nun war ich an der Universität. Aber wie? Als bloßer Zuläufer, der sein Recht auf die akademische Bürgerschaft erst durch eine schwere Prüfung zu gewinnen hatte; als eine fragliche Existenz, kaum einer demütigenden Lage entgangen, von bitteren Sorgen gedrückt, mit sehr unsicherem Ausblick auf die Zukunft. So geschah es mir wieder, daß das, was ich erhofft hatte, in einer traurigen Gestalt kam. In der Erfüllung konnte ich den vorhergegangenen Wunsch kaum wiedererkennen.





Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 060. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s060.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)