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Glück ein wenig. Ich wußte das ganze sechste Buch der Iliade auswendig herzusagen, und es traf sich, daß der Examinator im Griechischen mich gerade aus diesem Buch übersetzen ließ. So konnte ich denn den Text beiseite legen und das mir aufgegebene Stück ohne einen Buchstaben anzusehen ins Deutsche übertragen, was nicht wenig Aufsehen erregte. Meine schriftstellerischen Aufsätze, deutsche und lateinische, sowie meine Leistungen in andern Fächern gefielen so gut, daß man mir meine Schwäche in der höhern Mathematik und den Naturwissenschaften nicht anrechnete. Als die Prüfung vorüber war, und ich das Zeugnis der Reife empfing, gab mir der Regierungskommissar, der mir früher furchtbar wie das dunkle Schicksal erschienen, einen besonders warmen Händedruck mit seinen Wünschen für mein ferneres Wohlergehen auf den Weg.

Triumphierend kam ich nach Bonn zurück. Nun erst konnte ich in der Universität regelrecht immatrikuliert werden und stand dann als vollgültiger, ebenbürtiger Student unter meinen Genossen. Mit neuer Begeisterung und nun auch mit einem Gefühl der Sicherheit gab ich mich meinen philologischen und geschichtlichen Studien hin und dachte mit größerer Ruhe an meine Zukunft, in der meine Phantasie mir eine Professur der Geschichte an einer Universität und eine schöne literarische Tätigkeit vormalte. Ich hoffte, den schlimmsten Stürmen des Lebens entronnen zu sein und einer ruhigen Laufbahn entgegen zu gehen, die allem, was ich an Ehrgeiz besaß, vollständig genügen würde. Wie wenig ahnte ich damals die sonderbaren Schicksale, die so bald all meine Zukunftspläne zerstören und mich in so ganz andere Bahnen werfen sollten! Der heitere Sinn, den mir die gütige Natur geschenkt, und die genügsame Genußfähigkeit, die meine Jugendjahre mir anerzogen, machten mich für den Reiz des freien Studentenlebens in hohem Grade empfänglich. Auch war mir das Glück wieder besonders günstig gewesen, indem es mich sogleich bei meinem Eintritt in die akademische Welt mit dem allerbesten Kreise von jungen Männern in freundliche Berührung gebracht hatte.

Friedrich Spielhagen sagt in seinen Memoiren, daß die Burschenschaft Frankonia „unter den studentischen Verbindungen jener Zeit zweifellos die vornehmste“ gewesen sei. Das war sie in der Tat. Freilich zählte sie unter ihren Mitgliedern keine Söhne hochadeliger Häuser, noch auch Leute von ungewöhnlichem Reichtum. Wenigstens galt der Reichtum für nichts. Um so stärker war in ihr ein geistig vornehmer Ton und ein ernstes wissenschaftliches Streben vertreten, und ich glaube, keine der damaligen studentischen Gesellschaften hatte so viele Jünglinge aufzuweisen, die später als tüchtige Menschen auf ihren verschiedenen Lebenswegen bekannt geworden sind. So traf ich dort zusammen mit Johannes Overbeck, der sich als Archäologe hohe Auszeichnung gewann; von dem gesagt werden sollte, daß er das beste Buch über Herkulanum und Pompeji geschrieben habe, ohne jemals dort gewesen zu sein, und der schließlich an der Leipziger Universität als Professor der Archäologie glänzte; mit Julius Schmidt aus Eutin, der, ohne die regelmäßige Gymnasialbildung genossen zu haben, sich in den vordersten Rang der Astronomen durcharbeitete und, nachdem er der

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 063. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s063.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)