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Er besaß in hohem Maße die heitere Ungebundenheit des Rheinländers. Er liebte es, den Professor beiseite zu legen und im Familien- und Freundeskreise sich in zwangloser Fröhlichkeit gehen zu lassen. Er leerte sein Glas Wein, lachte über einen guten, oder auch gar einen schlechten Spaß herzlich und laut, zog aus allen Lebensverhältnissen soviel Freude, wie daraus zu ziehen war, und grämte sich möglichst wenig, wenn sich ihm das Schicksal unfreundlich erwies. So fühlte man sich bald vertraut und heimisch in seiner Gesellschaft. Gegner hatte er freilich auch. Diese rechneten es ihm als Charakterfehler an, daß er „eitel“ sei. Aber wer ist das nicht – jeder in seiner Weise? Eitelkeit ist die gewöhnlichste und natürlichste aller Charakterschwächen, und zugleich auch die unschädlichste und verzeihlichste, wenn sie unter dem Einflusse eines gesunden Ehrgeizes steht. Ins Maßlose getrieben, wird sie lächerlich und straft sich selbst. So hat’s mich eine lange Lebenserfahrung gelehrt.

Nichts hätte anmutender sein können, als Kinkels Familienleben. Frau Johanna war durchaus nicht schön. Ihre mittelgroße Figur war breit und platt; Hände und Füße, wenn auch nicht besonders groß, doch unzierlich geformt; die Gesichtsfarbe dunkel; die Züge grob und ohne weiblichen Reiz. Dazu verstand sie gar nicht, sich zu kleiden. Ihre Kleider waren gewöhnlich ein wenig zu kurz, so daß ihre breiten Füße, die fast immer in weißen Strümpfen steckten und mit gekreuzten Schuhbändern geschmückt waren, mehr als wünschenswert Aufmerksamkeit auf sich zogen. Aber aus ihren stahlblauen Augen strahlte eine dunkle Glut, die auf Ungewöhnliches deutete. In der Tat, der Eindruck des Unschönen verschwand sofort, wenn sie zu sprechen anfing. Auch dann schien sie zuerst noch von der Natur vernachlässigt zu sein; denn ihre Stimme hatte etwas Heiseres und Trockenes. Aber was sie sagte, pflegte den Zuhörer sofort zu fesseln. Nicht allein sprach sie über viele Gegenstände höherer Bedeutung mit tiefem Verständnis, großem Scharfsinn und auffallender Klarheit, sondern sie wußte auch gewöhnlichen Dingen, alltäglichen Vorkommnissen, durch ihre lebendige, geistvolle Darstellungsgabe ein eigentümliches Interesse zu verleihen. Und immer ließ sie das Gefühl zurück, daß hinter dem, was sie sagte, noch ein großer Reichtum von Kenntnissen und Gedanken aufgespeichert sei. Dazu besaß auch sie den munteren rheinischen Humor, der allen Dingen gern ihre scherzhafte Seite abgewinnt und unter allen Umständen das Genießbare des Lebens hervorsucht. Sie hatte eine ungemein gründliche musikalische Bildung genossen und spielte das Klavier mit Meisterschaft. Ich habe Beethovensche und Chopinsche Kompositionen selten so vollendet wiedergeben hören wie von ihr. Man konnte von ihr sagen, daß sie die Grenzlinie, die den Dilettantismus von der wahren Künstlerschaft scheidet, weit überschritten hatte. Sie komponierte ebenso reizend, wie sie spielte. Obgleich ihre Stimme kein Klangmetall besaß und sie im Singen die Töne scheinbar nur andeuten konnte, sang sie doch mit ergreifender Wirkung. Sie verstand wirklich die Kunst, ohne Stimme zu singen.

Wer nun diese beiden äußerlich so verschiedenen Menschen in ihrem häuslichen Leben beisammen beobachtete, der mußte den Eindruck

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 069. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s069.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)