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Maßregeln, von grausamen Demagogenverfolgungen, barbarischen Preßknebeleien, brutaler Polizeiwillkür, zuweilen unterbrochen von liberalen Anläufen in einigen der kleineren Staaten, denen dann noch empörendere Repressionsmaßregeln von Bundes wegen zu folgen pflegten. Und darüber schwebte der Bundestag, die angebliche Verkörperung deutscher Einheit, als wirkliche Verkörperung der bundesmäßig organisierten Polizeiwillkür. So waren die Opfer und der Heldenmut des deutschen Volkes in dem Kampf um nationale Unabhängigkeit belohnt, so die schönen Verheißungen des Jahres 1813 erfüllt worden. Es war eine Zeit tiefster Entwürdigung. Selbst der Franzose, der die Wucht der deutschen Waffen gefühlt, verspottete, nicht ohne Grund, die klägliche Demütigung des Siegers. Der Deutsche war versucht, sein Vaterland zu verachten. Er ironisierte sich selbst.

Die Thronbesteigung Friedrich Wilhelms IV. im Juni 1840 erweckte neue Hoffnungen. Er war als Mann von Geist bekannt und hatte als Kronprinz schöne Erwartungen erregt. Man hielt ihn für unfähig, die starre Politik seines Vaters weiterzuführen. Es war auch gerade damals, als die Bedrohung der Rheingrenze durch das französische Ministerium Thiers das deutsche Nationalgefühl wieder einmal mächtig aufbrausen machte, und dann das von millionenstimmigem Chor gesungene Lied „Sie sollen ihn nicht haben, den freien deutschen Rhein!“, wie dreißig Jahre später die „Wacht am Rhein“, den Franzosen drohend entgegenschallte. In der Tat schienen des neuen Königs erste Äußerungen und die Berufung bedeutender Männer zu hohen Stellen die Hoffnung zu ermutigen, daß er ebenso national gesinnt sei wie der patriotischste Teil des deutschen Volkes, und daß die liberalen Strömungen der Zeit in ihm Verständnis und Würdigung finden würden. Eine neue Enttäuschung folgte. Sobald die Forderung hervortrat, daß nun endlich das alte Versprechen der Einführung einer Repräsentationsverfassung erfüllt werden sollte, änderte sich des Königs Ton. Diese Forderung wurde schroff von ihm zurückgewiesen und die Zensur mit erneuter Strenge gegen die Presse gehandhabt. Friedrich Wilhelm IV. war von einem mystischen Glauben an die absolute Königsgewalt von Gottes Gnaden erfüllt. Er hegte romantische Phantasien, die ihn für manche der politischen und sozialen Institutionen des Mittelalters mehr einnahmen als für die Forderungen der Neuzeit. Er hatte Einfälle, aber keine Überzeugungen; Launen, aber keine echte Willenskraft; Witz, aber keine Weisheit. Er besaß den Ehrgeiz, etwas Bedeutendes tun zu wollen, um seinen Namen in die Weltgeschichte zu zeichnen. Aber während er sich und das Volk über allerlei Projekte unterhielt, wollte er doch im wesentlichen alles beim alten lassen. Er glaubte dem Volke den Schein eines Anteils an der Regierung bieten zu können, ohne jedoch die Allgewalt seiner Krone im geringsten zu schmälern. Aber diese Versuche endeten wie alle ähnlichen, von andern Monarchen zu andern Zeiten gemachten. Das Scheinbare und Ungenügende, das er gab, diente nur dazu, bei dem Volke das Verlangen nach dem Wesenhaften und Zulänglichen zu verstärken und zu erhitzen. Revolutionen beginnen oft mit Scheinreformen. Die Provinziallandtage, die der König berief in der Erwartung, daß sie sich bescheiden auf die

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 072. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s072.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)