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durchdrang. Das ist eine Stimmung, die, wenn sie auch zuweilen phantastische Übergriffe veranlassen mag, ein Volk in sich selbst achten, deren es sich gewiß nicht schämen soll. Es wird mir warm ums Herz, so oft ich mich in jene Tage zurückversetze. Ich kannte in meiner Umgebung viele redliche Männer, Gelehrte, Studierende, Bürger, Bauern, Arbeiter, mit oder ohne Vermögen, mehr oder minder auf ihre tägliche Arbeit angewiesen, um sich und ihren Angehörigen einen anständigen Lebensunterhalt zu sichern; ihrem Beruf ergeben, nicht allein aus Interesse, sondern auch aus Neigung; aber damals jeden Augenblick bereit, Stellung, Besitz, Aussichten, Leben, alles in die Schanze zu schlagen für die Freiheit des Volks und für die Ehre und Größe des Vaterlandes. Man respektierte den, der bereit war, sich für eine große Idee totschlagen zu lassen. Und wer immer, sei es Individuum oder Volk, Momente solch opferwilliger Begeisterung in seinem Leben gehabt hat, der halte die Erinnerung in Ehren.

Ich fand mich bald, ohne daß es meine Absicht gewesen wäre, unter den Studenten in eine ins Auge fallende Stellung vorgeschoben, und zwar durch die erste Rede, die ich in meinem Leben gehalten habe. Es wurde eine Studentenversammlung nach der Aula der Universität berufen – ich weiß nicht mehr zu welchem speziellen Zweck. Professor Ritschl, unser erster Philologe und damals, wenn ich mich recht erinnere, Dekan der philosophischen Fakultät – ein sehr angesehener und beliebter Mann –, führte den Vorsitz. Der Saal war gedrängt voll, und ich stand mitten unter der Menge. Über den Gegenstand, der zur Verhandlung kam, hatte ich viel nachgedacht und mir eine Meinung gebildet; aber ich war nicht zur Versammlung gegangen mit dem Vorsatz, an der Debatte teilzunehmen. Da hörte ich einen Redner etwas sagen, das meiner Ansicht stark entgegen war und mich aufregte. Einem plötzlichen Impuls folgend, verlangte ich das Wort und fand mich im nächsten Augenblick zur Versammlung sprechend. Ich habe mir später nie wieder genau das zurückrufen können, was ich sagte. Ich erinnere mich nur, daß ich mich in einem mir bis dahin unbekannten nervösen Zustande befunden, daß ich am ganzen Leibe gebebt, daß mir Gedanken und Worte in einem ununterbrochenen Strome zugeflossen, daß ich mit ungestümer Schnelligkeit gesprochen, und daß der darauf folgende Beifall mich fast wie aus einem Traume aufgeweckt hatte. Das war meine erste öffentliche Rede. Als die Versammlung sich aufgelöst hatte, traf ich am Ausgang mit Professor Ritschl zusammen. Da ich Vorlesungen bei ihm hörte, so kannte er mich. Er legte mir die Hand auf die Schulter und fragte:

„Wie alt sind Sie denn?“

„Neunzehn Jahre.“

„Das ist schade“, anwortete er. „Man wird nun bald ein Nationalparlament wählen und Sie sind noch zu jung, um ein Mitglied davon zu werden.“ Ich wurde rot bis über die Ohren. Daß ich Mitglied eines Parlaments werden könne – zu einer solchen Hoffnung hatte sich mein Ehrgeiz noch nicht verstiegen. Ich fürchtete, der Professor habe sich einen Spaß mit mir erlaubt.

Es währte jedoch nicht lange, bis ich wieder in den Vordergrund kam. Wie jeder andere Stand, so hatten auch die Studenten ihre

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 085. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s085.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)