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eigentümlichen Beschwerden und Forderungen, die in der „neuen Zeit“ zur Geltung kommen mußten. Bei den preußischen Universitäten gab es einen Beamten, der „Regierungsbevollmächtigte“ geheißen, dessen Pflicht zum Teil darin bestand, die politische Haltung der Professoren und der Studenten zu überwachen. Das Amt war zur Zeit der Demagogenhetze nach der berüchtigten Karlsbader Konferenz geschaffen worden und stand daher in sehr üblem Geruch. Unser Regierungsbevollmächtigter war Herr von Bethmann-Hollweg. Mehr seines Amtes als seiner persönlichen Eigenschaften wegen war er höchst unpopulär bei der Studentenschaft. Wir fühlten, daß ein solches Amt, ein Produkt der Periode tiefster Knechtschaft und Erniedrigung, zu der neuen Ordnung der Dinge nicht mehr passe und daher schleunigst abzuschaffen sei. Es wurde eine Studentenversammlung nach der Reitbahn der Universität berufen, und da der Zweck derselben ruchbar geworden war, so hielten sich die Professoren davon zurück. Meine Rede in der Aula hatte mir ein gewisses Ansehen gegeben, und so wurde ich zum Vorsitzenden der Versammlung gewählt. Es wurde beschlossen, eine Adresse an den akademischen Senat zu richten mit der Forderung, daß der Regierungsbevollmächtigte sofort entfernt werden solle. Als Vorsitzender erhielt ich den Auftrag, die Adresse auf der Stelle zu schreiben. Dies geschah. Sie bestand aus vier oder fünf Zeilen. Die Versammlung nahm dieselbe sofort an und beschloß – wie man denn in jener Zeit das Dramatische liebte –, sich ohne Verzug in Masse nach dem Hause des Rektors der Universität zu begeben um ihm das Schriftstück persönlich zu überreichen. So marschierten wir denn, 7 bis 800 Mann stark, in gedrängter Kolonne nach der Wohnung des Rektors auf der Koblenzer Straße und klingelten. Der Rektor, Herr van Calker, Professor der Philosophie, ein bejahrtes, ängstlich aussehendes Männchen, erschien bald an der Tür, und ich las ihm die in recht energischer Sprache abgefaßte Adresse vor. Einen Augenblick sah er sich die Menge von Studenten, die sich um seine Haustüre drängten und leider sein kleines holländisches Blumengärtchen niedertraten, schüchtern an, und dann sagte er uns in oft stockender Rede, wie sehr erfreut er sei von dem frischen, hoch aufstrebenden Geist der deutschen Jugend, und wie Großes die Studierenden in dieser wichtigen Zeit leisten könnten, und daß er sehr gern unsere Adresse dem akademischen Senat und der Regierung zu baldiger Erwägung und Erledigung mitteilen werde. Wir sahen dem braven Manne, dem niemand Übles wollte, leicht an, daß es ihm mit seiner Freude an diesem aufstrebenden Geist der deutschen Jugend durchaus nicht geheuer war, dankten ihm für seine Bereitwilligkeit, verabschiedeten uns höflich und marschierten zurück nach dem Marktplatz. Dort wurde uns berichtet, daß, während wir den Rektor besucht, der Regierungsbevollmächtigte schleunigst seine Koffer gepackt habe und bereits abgereist sei.

Während der Jubel über die „Märzerrungenschaften“ zuerst allgemein zu sein schien und selbst die Anhänger der absoluten Königsgewalt gute Miene zum bösen Spiel machten, begann doch sehr bald die Zerfetzung in verschiedene Parteigruppen zwischen denjenigen, denen es hauptsächlich um die Herstellung der Ordnung und Autorität zu tun

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 086. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s086.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)