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sich auf kurze und formelle Audienzen, und Stimmen, die an alte Sympathien, Vorurteile und Wünsche erinnerten, waren stets seinem Ohr am nächsten.

Da war zuerst die Armee, von jeher das Schoßkind der Hohenzollern, jetzt voll von verhaltenem Grimm über die „Schande“, die ihr geworden durch den Abzug von Berlin nach dem Straßenkampf, und dürstend nach „Rache“ und der Wiederherstellung ihres alten Prestige. Da war der Hofadel, dessen Geschäft es immer gewesen war, dem Herrscher zu schmeicheln und die eigene Wichtigkeit durch die erhöhte Glorie seiner Person zu vergrößern. Da war der Landadel, das Junkertum, dessen feudale Vorrechte durch den Geist der Revolution theoretisch geleugnet und durch die gesetzgeberische Aktion der Volksvertreter praktisch verkürzt wurden, und der es sich nun angelegen sein ließ, des Königs Stolz anzustacheln. Da war die alte Bureaukratie, deren Macht durch die Revolution gebrochen worden, obgleich das Personal so ziemlich dasselbe geblieben war, und die sich jetzt bemühte, ihre alte Machtstellung wieder zu gewinnen. Da war der „altpreußische“ Geist, der allen nationalen Bestrebungen, die das Prestige und die Wichtigkeit des spezifischen Preußentums zu schmälern drohten, feindlich war, und der in den Marken und den östlichen Provinzen nicht unbeträchtliche Stärke besaß. All diese Einflüsse, die im Volksmunde gemeinhin als „die Reaktion“ bezeichnet wurden, wirkten zusammen, um den König von der Bahn, die er in den Märztagen betreten, abzuwenden mit der Hoffnung, ihn zur möglichst vollständigen Wiederherstellung der alten Ordnung der Dinge benutzen zu können – wohl wissend, daß, wenn sie ihn kontrollierten, sie durch ihn die preußische Armee kontrollieren würden, und in dieser Armee eine ungeheure, vielleicht entscheidende Macht in den Kämpfen der Zukunft. Und diese „Reaktion“ wurde sehr gekräftigt durch eine schlaue Ausbeutung gelegentlicher Straßenexzesse, die in Berlin vorkamen – Exzesse, die in einem freien Lande wie England oder Amerika wohl verschärfte Polizeimaßregeln veranlassen, aber keinen vernünftigen Menschen hinreichend beunruhigen würden, um die Durchführbarkeit der bürgerlichen Freiheit oder konstitutioneller Regierungsprinzipien in Frage zu stellen. Aber diese Vorkommnisse wurden in Preußen emsig dazu benutzt, um die furchtsamen Seelen des Bürgertums mit dem Gespenst allgemeiner Anarchie zu schrecken und den König zu überzeugen, daß die Wiederherstellung einer möglichst unumschränkten Königsgewalt zur Aufrechterhaltung von Gesetz und Ordnung durchaus nötig sei.

Auf der andern Seite wirkte das augenscheinliche Wachstum der Reaktion dahin, diejenigen, denen es um nationale Einheit und konstitutionelle Regierung auf demokratischer Grundlage am ernstlichsten zu tun war, radikaleren Tendenzen mehr und mehr zugänglich zu machen.

Die Wirkung des raschen Fortschritts dieser Reaktion machte sich auch in meiner Umgebung wohl bemerklich. Die Mitgliederschaft unseres demokratischen Vereins bestand so ziemlich zu gleichen Hälften aus Bürgersleuten und Studenten. Unter den Bürgersleuten taten sich besonders hervor ein Kaufmann namens Anselm Unger, ein Mann von nicht außerordentlichen, aber doch anständigen Fähigkeiten, gutem Charakter

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 091. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s091.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)