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und einigem Vermögen; ferner ein Schankwirt namens Friedrich Kamm, der früher Bürstenmacher gewesen war, auch ein Mann unbescholtenen Rufs; aber er gehörte, wenigstens seiner Redeweise nach, zu den grimmen Revolutionären, wie sie sich in der französischen Revolution unter den Terroristen fanden, zu den Blutig-Unversöhnlichen, die nicht zufrieden sein wollten, „bis der letzte Fürst und der letzte Aristokrat mit den Gedärmen des letzten Pfaffen erdrosselt wäre“ usw. – Unter den Studenten gehörten Strodtmann, den ich bereits erwähnt, Ludwig Meier, ein Mediziner, eine brave, enthusiastische Natur, und ein Westfale namens Brüning, der sich durch eine ungewöhnliche Redegabe auszeichnete, aber nach einigen Monaten aus unseren Reihen verschwand, zu den Eifrigsten. Kinkel war der anerkannte Führer des Klubs, und ich nahm einem Sitz im Exekutivausschuß ein. Anfangs wäre uns eine konstitutionelle Monarchie mit allgemeinem Stimmrecht und wohl gesicherten bürgerlichen Freiheiten vollkommen genügend gewesen. Aber die Reaktion, deren drohendes Aufsteigen wir beobachteten, brachte uns bald zu dem Glauben, daß es für die Freiheit keine Sicherheit gebe als in der Republik. Von dieser Überzeugung war es nur ein Schritt bis zu dem weiteren Glauben, daß in der Republik und nur in der Republik die Heilung aller Schäden des Gemeinwesens, die Lösung aller politischen und sozialen Probleme zu finden sei. Der Idealismus, der in dem republikanischen Staatsbürger die höchste Verkörperung der Menschenwürde sah, war in uns durch das Studium des klassischen Altertums genährt worden, und über alle Zweifel, ob und wie die Republik in Deutschland eingeführt und inmitten des europäischen Staatensystems behauptet werden könne, half uns die Geschichte der französischen Revolution hinweg. Dort fanden wir ja, wie das scheinbar Unmögliche geleistet werden kann, wenn nur die ganze in einer großen Nation ruhende Energie geweckt und mit der erforderlichen Kühnheit gehandhabt wird. Vor dem wilden Terrorismus, welcher die nationale Erhebung in Frankreich mit Strömen unschuldigen Bluts befleckte, schraken wohl die meisten von uns zurück. Aber wir hofften, auch ohne solche Extreme fertig werden zu können, und die Geschichte der französischen Revolution lieferte uns immerhin Vorbilder genug, denen wir folgen zu dürfen glaubten und die unsere Phantasie lebhaft erregten. Wie verführerisch solches Phantasiespiel ist, waren wir uns natürlich nicht bewußt. Wie es gewöhnlich geht, suchten wir zuerst unsere Vorbilder in gewissen Äußerlichkeiten nachzuahmen, und so wurde, um den Grundsatz der bürgerlichen Gleichheit unter den Mitgliedern unseres Klubs zu versinnlichen, die Regel eingeführt, daß es für alle, wie verschieden auch ihre Lebensstellungen sein mochten, in den Verhandlungen des Vereins nur einen Titel, eine Anrede geben solle, nämlich „Bürger“. So gab es denn keinen „Herrn Professor Kinkel“ mehr, sondern nur einen „Bürger Kinkel“, „Bürger Unger“, „Bürger Kamm“, „Bürger Schurz“ usw. Daß uns diese Spielerei von seiten unserer Gegner mancherlei Spott zuzog, störte uns nicht. Uns war es ernstlich dabei zumute; wir meinten nur, durch die Einführung dieses Stiles der notwendigen politische Entwicklung ihren Ton vorgezeichnet zu haben. Des Inhaltes unserer Klubdebatten erinnere ich mich zu wenig, um zu sagen, wie viel

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 092. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s092.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)