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auszeichnete, machte den Vorschlag, daß wir, ehe wir auseinander gingen, noch eine Ansprache an das deutsche Volk erlassen sollten, um demselben unsere Meinung über die obwaltende Sachlage darzulegen, und es zu schlafloser Wachsamkeit und energischem Widerstande gegen die vordringende Reaktion zu ermahnen. Daß eine solche Proklamation in solchem Augenblick von so sehr jungen Leuten ausgehend etwas Komisches haben könne, schien niemandem von uns einzufallen. Der Antrag wurde mit größtem Ernst erwogen und gebilligt, die Adresse sofort entworfen, diskutiert und angenommen, um dann, mit den Unterschriften eines Ausschusses, zu dem auch ich gehörte, dieselbe Nacht noch gedruckt, um an dem Rathause und anderen Plätzen angeschlagen und an mehrere Zeitungen versandt zu werden. Nachdem diese Tat getan war, wurden noch mehrere Lieder gesungen, und dann nahmen wir unter zärtlichen Umarmungen und Beteuerungen ewiger Freundschaft voneinander Abschied. In der Frühe des nächsten Morgens zerstreuten wir uns nach allen Richtungen.

Auf dem Heimwege wurde mir recht nüchtern zumute. In Frankfurt fand ich noch den Belagerungszustand und eine dumpfe Atmosphäre der Besorgnis. An einem trüben und feucht kalten Tage fuhr ich den Rhein hinunter. Unter den Passagieren des Dampfers sah ich kein einziges bekanntes Gesicht. Als ich so stundenlang allein und fröstelnd auf dem Deck saß, möglichst nahe bei dem Schornstein, um mich zu erwärmen, kamen mir, außer meiner Unruhe über den allgemeinen Gang der Dinge, zum erstenmal Gedanken über meine persönliche Sicherheit. Ich erinnerte mich des Wortlautes der Ansprache, die wir in Eisenach veröffentlicht und die manchen scharfen Ausfall gegen die Majorität des Nationalparlaments und gegen die preußische Regierung enthielt. Ebenso erinnerte ich mich, in den Blättern gelesen zu haben, daß das Parlament infolge des Septemberaufstandes ein Gesetz erlassen hatte, das unter anderem Beleidigungen seiner Mitglieder mit schweren Strafen belegte. Hatten wir nicht durch unsere veröffentlichte Ansprache das so definierte Verbrechen begangen? Unzweifelhaft; und so phantasierte ich mich denn nach und nach in die Erwartung hinein, daß man mich nach meiner Ankunft in Bonn baldigst verhaften und wegen eines Preßattentats auf das Nationalparlament und auf die preußische Regierung vor Gericht stellen werde. Ich kam leicht zu dem Entschluß, diesem Schicksal mutig ins Auge zu sehen. Aber was mich doch sehr verdroß, war der Gedanke, daß unsere Eisenacher Ansprache wahrscheinlich gar keinen anderen Effekt haben werde als diesen. Meine Besorgnis, verhaftet und prozessiert zu werden, erwies sich auch als ganz überflüssig. Wenn unsere Proklamation wirklich den Regierungen zur Kenntnis gekommen war, so hielten diese es wohl nicht der Mühe wert, darüber noch weiteres Geräusch zu machen; und ich zog daraus die nicht gerade schmeichelhafte Lehre, daß wir jungen Menschen möglicherweise andern Leuten viel weniger wichtig erscheinen mochten als uns selbst. Bald jedoch sollte es nun wirklich zu ernsteren Konflikten kommen.

Inhaltschwere Nachrichten von Wien bestätigten die Vorhersagungen unserer Freunde in Eisenach. Ungarn hatte in den Märztagen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 101. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s101.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)