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einen höheren Grad staatlicher Selbständigkeit innerhalb des österreichischen Kaiserreichs gewonnen, als es früher besessen. Es hat sein eigenes in Pest residierendes Ministerium, ohne dessen Gegenzeichnung keine Verfügung des Kaisers für Ungarn Gültigkeit haben sollte. Ohne Zustimmung der gesetzgebenden Gewalt Ungarns sollten weder ungarische Truppen außerhalb seiner Grenzen verwendet werden, noch nicht ungarische Truppen seinen Boden betreten. Ein Erzherzog-Palatin sollte als Vizekönig von Ungarn seine Residenz in Pest haben. Außerdem sollten die deutschen und slavischen bis dahin zu Ungarn gezählten Nebenländer der ungarischen Regierung als integrierende Landesteile unterworfen sein. – Dieser halbwegs unabhängige ungarische Staat war der österreichischen Hofpartei ein Dorn im Auge. Seine Unterjochung wurde durch eine vom Hofe begünstigte Empörung des Banus von Kroatien, Jellachich, gegen die Oberhoheit Ungarns vorbereitet. Im Juli fand sich der Kaiser gezwungen, Jellachich zu desavouieren und zum Hochverräter zu erklären, aber im September setzte er ihn als einen treuen und vertrauten Diener der Krone in all seine früheren Würden und Gewalten wieder ein. Die ungarische Regierung, Stände und Ministerium, erhob ihren Protest dagegen, worauf der Erzherzog-Palatin sein Amt niederlegte. Die kaiserliche Regierung enthüllte nun ihren Plan, Ungarn wieder in direkte Abhängigkeit zu bringen, indem sie den Grafen Lemberg als kaiserlichen Kommissär nach Pest schickte. Diesem sollten einem kaiserlichen Befehl gemäß alle ungarischen Behörden und Truppen Gehorsam leisten. Da dieser Befehl natürlich nicht die Gegenzeichnung eines ungarischen Ministers trug, so wurde er von den ungarischen Ständen für verfassungswidrig und ungültig erklärt. An die Stelle des abgedankten Palatins setzten die Stände eine Regierungskommission, mit dem Grafen Bratthyoni an der Spitze. Lemberg wurde bei seinem Einzuge in Pest von einem aufgeregten Volkshaufen getötet. Nun erließ der Kaiser von Österreich eine Proklamation, durch die er die ungarischen Landstände für aufgelöst und alle ohne seine Zustimmung erlassenen Gesetze für ungültig erklärte. Auch ernannte er Jellachich zu seinem unumschränkten Bevollmächtigten in bezug auf alle ungarischen Angelegenheiten. Damit war der Bruch vollständig geworden. Die Ungarn rüsteten sich zum Kampf, und als am 5. und 9. Oktober deutsche Truppen zur Unterwerfung der Ungarn aus Wien abgeschickt werden sollten, erhob sich das Wiener Volk, die Studenten an der Spitze, mit dem Gefühl, daß der Versuch, die konstitutionellen Rechte der Ungarn zu zerstören, zugleich gegen die Rechte der Deutsch-Österreicher und gegen die Früchte der Revolution überhaupt gerichtet sei. Nach blutigem Kampf behaupteten die Aufständischen das Feld. Der Kriegsminister Latour wurde von einem wütenden Volkshaufen gehenkt. Der Kommandant der Besatzung von Wien, Graf Auersperg, fand sich genötigt, die Stadt zu räumen, nahm aber draußen eine feste Stellung ein und wurde bald durch große Truppenmassen unter Jellachich und Windischgrätz verstärkt. Unter dem Oberkommando des Fürsten Windischgrätz griff die Armee am 23. Oktober die Stadt Wien an und nach bitterem, blutigem Ringen überwand sie am 31. Oktober den letzten Widerstand. Wien wurde dann der unbeschränktesten Willkür der

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 102. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s102.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)