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Berlin. Obgleich nun die beiden Ehegatten regelmäßige Beiträge für die Bonner Zeitung schickten, so fiel doch während ihrer Abwesenheit die tägliche Redaktion und damit eine schwere Last ungewohnter Arbeit mir zu.

Da die Bonner Zeitung nur über ein geringes Personal verfügte, so hatte ich nicht allein politische Artikel zu liefern, sondern auch manches von dem, was ein tägliches Blatt sonst noch seinen Lesern bieten muß, unter andern Dingen Theaterkritiken. Es hatte sich nämlich unter einem Direktor namens Löwe eine Bühne etabliert, die zwar nichts Großes, aber in verschiedenen Richtungen doch Anerkennenswertes leistete. Sie versuchte sich zuweilen sogar in leichten Opern. Der Bonner Zeitung, in welcher anfangs Frau Johanna Kinkel die dramatischen und musikalischen Aufführungen mit großer Sachkenntnis und ebenso großem Wohlwollen besprochen hatte, war eine Loge im zweiten Rang zur Verfügung gestellt. Diese Loge stand auch mir offen, und ich besuchte sie nicht nur, wenn meine journalistische Pflicht mich zu der Aufführung eines neuen Stückes rief, sondern zuweilen auch, wenn ich das Bedürfnis fühlte, mich von meinen vielen Arbeiten und Sorgen durch eine Zerstreuung ein wenig zu erholen. Ich muß nun hier das Geständnis machen, daß zu diesen Arbeiten und Sorgen auch noch eine Herzensangelegenheit getreten war, die mir eine bittere Selbstdemütigung bereitete. Dies hing so zusammen:

Ich hatte bis dahin niemals mit einem weiblichen Wesen außerhalb meines unmittelbaren Familienkreises in Beziehungen irgendwelcher Vertraulichkeit gestanden. Teils fühlte ich mich von keiner Neigung dazu getrieben, teils hatte mich auch meine hartnäckige Schüchternheit von allen weiblichen Bekanntschaften zurückgehalten. Endlich erreichte mich doch das Schicksal. Ich schwärmte wirklich für eine junge Dame. Sie war die Tochter eines kleinen Kaufmanns. Wir wollen sie Betty nennen. Ich war ihr freilich noch nie vorgestellt worden und hatte nie ein Wort mit ihr gewechselt. Nur am Fenster hatte ich sie sitzen sehen mit einer Stickerei oder, noch öfter, mit einem Buch in der Hand. An diesem Fenster war ich oft vorübergegangen, und gewöhnlich saß sie auf derselben Stelle. Zuweilen begegneten sich unsere Blicke, und ich fühlte dann, wie ich schnell und heftig errötete. Ich hielt sie für sehr schön, und von einem meiner Freunde, der sie kannte, hörte ich einmal, daß sie Shakespeare im Englischen lese, was mir einen hohen Begriff von ihrer Bildung und geistigen Begabung einflößte. Nach allem, was ich damals und später über sie erfuhr, war sie wirklich ein für ihren Stand ungewöhnlich gebildetes und in jeder Hinsicht vortreffliches Mädchen. Die schlaue, halb verschämte Weise, in welcher ich in der Gesellschaft jenes Freundes nicht selten die Rede auf Betty lenkte, war wohl geeignet, diesem den Verdacht zu geben, daß ich mich lebhaft für sie interessiere. Und aus Äußerungen, die er zuweilen bei solchen Gelegenheiten fallen ließ, glaubte ich schließen zu dürfen, daß Betty auch mich bemerkt habe und freundlich von mir denke. Dies gab natürlich meiner Schwärmerei immer frische Nahrung, und häufig erschien mir Betty in meinen wachen Träumen. Es war mein sehnlicher Wunsch, mit ihr bekannt zu werden und ihr näher zu kommen. Dazu bot sich eine überraschend günstige Gelegenheit.

Empfohlene Zitierweise:
Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 107. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s107.jpg&oldid=- (Version vom 29.8.2021)