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Schicksalsgenossen war es ebenso zumute, und so schrien wir denn nach Herzenslust, zum großen Erstaunen der Douaniers, die uns für toll halten mochten.

Wir waren bei einem kleinen Dorf, Münchhausen genannt, gelandet. Die Douaniers sagten uns, daß sich in dem nahen Städtchen Selz viele deutsche Flüchtlinge befänden, und dahin wendeten wir unsere Schritte. Unterwegs blickten wir einander im hellen Sonnenlichte an und fanden, daß wir schauderhaft aussahen. Vier Tage und Nächte hatten wir mit durchnäßten Kleidern in Wasser, Schlamm und Staub gewatet und gelegen. Unsere Haare waren von Schmutz aneinander geklebt und unsere Gesichter kaum zu erkennen. Am nächsten Bach genossen wir dann den unbeschreiblichen Luxus einer Wäsche, und so, zu menschlicher Erscheinung hergestellt, erreichten wir bald das Wirtshaus in Selz.

Die dort anwesenden Flüchtlinge aus Baden, von denen keiner in Rastatt gewesen war, hießen uns willkommen und wollten unsere Abenteuer hören. Aber vorerst stand unser Verlangen nach einem Zuber warmen Wassers, einem Frühstück und einem Bett. Alles dies erhielten wir. Ich schlief vierundzwanzig Stunden mit geringer Unterbrechung. Dann machte ich die Flüchtlingsgesellschaft im Wirtshause mit den Umständen unseres Entkommens aus der Festung bekannt. Von ihnen erfuhr ich dann auch zum erstenmal, daß Kinkel in einem der Gefechte bei Rastatt vor dem Beginn der Belagerung von den Preußen gefangen worden sei. Er hatte sich, nachdem wir die Pfalz verlassen und er also in Verbindung mit der pfälzischen provisorischen Regierung nicht mehr tätig sein konnte, einem Volkswehrbataillon angeschlossen und als gemeiner Soldat die Muskete in die Hand genommen. Als Kämpfender wollte er das Schicksal des Revolutionsheeres teilen. In einem Gefechte an der Murglinie wurde er durch eine feindliche Kugel am Kopfe verwundet, stürzte zu Boden und fiel den angreifenden Preußen in die Hände. Nun, hieß es, habe man ihn mit der gefangenen Besatzung in eine der Rastatter Kasematten gesteckt, um ihn von einem Kriegsgericht aburteilen und dann erschießen zu lassen. Diese Nachricht erschütterte mich tief, so daß ich der wiedergewonnenen Freiheit kaum froh werden konnte.

Am Tage nach unserer Ankunft in Selz erschien im Wirtshause ein Gendarm im Auftrage des Maire, um unsere Namen zu erfahren und auch, ob wir zu bleiben, oder, wenn nicht, wohin wir zu gehen beabsichtigten. „Wir wollen nach Straßburg gehen“, antwortete ich aufs Geratewohl. Der Maire fertigte uns darauf eine Art von Laufpaß aus mit der Anweisung, daß wir uns in Straßburg sofort auf der dortigen Präfektur melden sollten. Ein drückendes Gefühl kam über mich, daß ich nun wirklich ein Heimatloser, ein Flüchtling sei und unter polizeilicher Überwachung stehe. Nachdem ich meinen Eltern geschrieben und ihnen meine Rettung mitgeteilt hatte, machten wir uns ohne weiteren Aufenthalt nach Straßburg auf den Weg. Mein eigentliches Reiseziel war die Schweiz, wo, wie ich hörte, Anneke, Techow, Schimmelpfennig und andere Freunde sich befanden.

Wäre ich ein paar Tage länger in Selz geblieben, so würde ich in demselben Wirtshaus, in dem ich eingekehrt, meinen Vater gesehen

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Carl Schurz: Lebenserinnerungen bis zum Jahre 1852. Berlin: Georg Reimer, 1911, Seite 156. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Schurz_Lebenserinnerungen_b1_s156.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)