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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland

und dann bin ich zu euern Diensten. Aber was soll’s denn heute für eine Geschichte sein?“

„Von Lips Tullian und von Cartouche,“ rief einer der Knaben. „Nein, der Schinderhannes, der war viel schöner,“ schrie ein andrer. „Nein, von Murr und Tetter; die waren doch von hier; die Geschichte war so schön, wie sie in Goldingen eingebrochen und die Ballen Seidenzeug gestohlen hatten, und hernach in Hasenpoth gehängt wurden, und wie der Tetter nicht einmal ein Paar ehrliche Hosen hatte, um mit Anstand zu baumeln. Großvater, ist es wirklich wahr, daß er nicht einmal ein Paar Hosen hatte?“ —

„Ja, mein Kind; es mußte sie ihm einer aus Mitleid leihen. Ungerecht Gut gedeiht nicht.“

„Ach, die Geschichten haben wir alle schon gehört. Was Neues, Großvaterchen!“

„Eine Wolfsgeschichte,“ schmeichelte die kleine Minna. „Ich lieb Wolfsgeschichten, und wenn ich nur zwischen Georg und Großvaterchen sitzen kann, so hab ich gar keine Angst.“

„Dummes Kind,“ erwiderte Georg, „wer hat sich denn hier zu fürchten! Ich hab selbst einen Wolf gesehen. Wir liefen ihm mit Stöcken nach; aber er war uns zu schnell. Auch haben wir im Walde die gefallene Kuh auf­gesucht, welche die Wölfe zerrissen und verschleppt hatten. Sie sah gräßlich aus. — Aber wenn Großvaterchen von der Pestzeit erzählen wollte, das wär’ schön! Und du hast es uns doch in der vorigen Woche versprochen.“

„Das ist was anderes. Was man versprochen hat, muß man halten. Also von der Pestzeit hab ich heute zu erzählen, und eine Wolfsgeschichte für klein Minnachen soll auch dabei sein.“

Damit lenkte der Großvater seine Schritte dem magern, dünnfüßigen Sofa zu, das am Ende des Saales stand, indem er den Kindern zurief: „jetzt aber setzt euch und seid

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Paul Seeberg: Aus alten Zeiten : Lebensbilder aus Kurland. J. F. Steinkopf, Stuttgart 1885, Seite 38. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:SeebergAusAltenZeiten.pdf/36&oldid=- (Version vom 21.9.2022)