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pflegte ich wie fremde Menschen, mit denen ich nicht recht vertraut umgehen dürfte, anzusehen, und von Katholiken, die aus dem eine Stunde weit entlegenen Salmünster oft durchreisten, gemeinlich aber schon an ihrer bunteren Tracht zu erkennen waren, machte ich wohl mir scheue, seltsame Begriffe. Und noch jetzt ist es mir, als wenn ich nur in einer ganz einfachen, nach reformirter Weise eingerichteten Kirche, recht von Grund andächtig seyn könnte; so fest hängt sich aller Glaube an die ersten Eindrücke der Kindheit, die Phantasie weiß aber auch leere und schmucklose Räume auszustatten und zu beleben, und größere Andacht ist nie in mir entzündet gewesen, als wie ich an meinem Konfirmationstage nach zuerst empfangenem heil. Abendmahl auch meine Mutter um den Altar der Kirche gehen sah, in welcher einst mein Großvater auf der Kanzel gestanden hatte. Liebe zum Vaterland war uns, ich weiß nicht wie, tief eingeprägt, denn gesprochen wurde eben auch nicht davon, aber es war bei den Aeltern nie etwas vor, aus dem eine andere Gesinnung hervorgeleuchtet hätte; wir hielten unsern Fürsten für den besten, den es geben könnte, unser Land für das gesegnetste unter allen; es fällt mir ein, daß mein vierter Bruder, der von uns hernach am frühsten und längsten im Ausland leben mußte, als Kind auf der hessischen Landkarte alle Städte größer und alle Flüsse dicker malte. Mit einer Art von Geringschätzung sahen wir z. B. auf Darmstädter herab. Wir wurden bei einem Stadtpräzeptor Zinkhan unterrichtet, von dem wenig zu lernen war, außer Fleiß und strenge Aufmerksamkeit, aber aus dessen charakteristischem Benehmen uns eine Menge ergötzlicher Späße, Redensarten und Manieren zurückgeblieben ist. Den Zeiger auf dem weißen Zifferblatt der nämlichen Wanduhr, die schon damals in der älterlichen Stube stand und noch jetzt in meiner Wohnung geht, sehe ich mir manchmal darauf an, ob er mir die Ankunft oder das ersehnte Weggehen des Schulmeisters in dem himmelblauen Rock mit schwarzer Hose und Weste ankündige. Bald wurde es nothwendig, auf unsere gründlichere Unterweisung Bedacht zu nehmen. Das Vermögen der Mutter war schmal und sie hätte uns sechs Kinder schwer auferziehen können, wenn nicht eine ihrer Schwestern, Henriette Philippine Zimmer, die bei der höchstseel. Kurfürstin, oder damaligen Landgräfin von Hessen, erste Kammerfrau und von der reinsten, aufopfernden Liebe zu uns beseelt war, sie treulich unterstützt hätte. Diese ließ mich und meinen Bruder Wilhelm also im J. 1798 nach Kassel kommen und in Kost geben, damit wir uns auf dem dortigen Lyzeum ausbilden sollten. Ich konnte erst in Unterquarta gesetzt werden, so sehr

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Jacob Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 149. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Jacob_Grimm).pdf/2&oldid=- (Version vom 1.8.2018)