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Weise, als Schriftsteller ausgezeichnet haben. Neben täglichen sechs Stunden auf dem Lyzeum brachte ich mit meinem Bruder noch wenigstens vier oder fünf Stunden täglich in Privatlehrstunden bei dem Pagenhofmeister Dietmar Stöhr zu, einem Manne, der, was ihm an tieferer Kenntniß abgieng, durch Freude am Unterricht, liebreiche Geduld und wahre Theilnahme an uns hinlänglich ersetzte. Er half im Latein nach und lehrte besonders französische Sprache. Im Ganzen hatte man uns doch zu viel aufgelastet; ein Paar Freistunden hätten uns wohl gethan, wir hatten aber mit wenigen Leuten Umgang und verwendeten beinahe alle Muße, die uns noch von der Schularbeit übrig blieb, auf Zeichnen, worin wir es auch ohne Lehrer ziemlich weit brachten, ja diese Fortschritte sind es, die hernach unsern jüngern Bruder Ludwig Emil ansteckten, der sich seitdem so wohl durch radierte Blätter als durch Oelmalerei rühmlich hervorgethan hat.

Im Frühjahr 1802, ein Jahr früher als Wilhelm, der um diese Zeit lange und gefährlich kränkelte, bezog ich die Universität Marburg. Die Trennung von ihm, mit dem ich stets in einer Stube gewohnt und in einem Bett geschlafen hatte, gieng mir sehr nahe; allein es galt, der geliebten Mutter, deren Vermögen fast zusammengeschmolzen war, durch eine zeitige Beendigung meiner Studien und den Erfolg einer gewünschten Anstellung einen Theil ihrer Sorge abnehmen und einen kleinen Theil der großen Liebe, die sie uns mit der standhaftesten Selbstverleugnung bewies, ersetzen zu können. Jura studierte ich hauptsächlich, weil mein seel. Vater ein Jurist gewesen war und es die Mutter so am liebsten hatte; denn was verstehen Kinder oder Jünglinge zu der Zeit, wo sie solche Entschlüsse fest und entschieden fassen, von der wahren Bedeutung eines solchen Studiums? Es liegt aber in diesem Haften bei dem Stande des Vaters an sich etwas Natürliches, Unschädliches und sogar Rathsames. In viel späteren Jahren hätte mich zu keiner andern Wissenschaft Lust angewandelt, als etwa zur Botanik. Der seel. Vater selbst hatte auch gewissermaßen vorgearbeitet und mir noch vor dem zehnten Jahr allerhand Definitionen und Regeln aus dem Corpus Iuris eingeprägt, er hatte auch wohl zum dereinstigen Gebrauch seiner Kinder aus seiner Praxis merkwürdige Fälle mit sauberer Hand aufgeschrieben. Zu Marburg mußte ich eingeschränkt leben; es war uns, aller Verheißungen ungeachtet, nie gelungen, die geringste Unterstützung zu erlangen, obgleich die Mutter Wittwe eines Amtmanns war, und fünf Söhne für den Staat groß zog; die fettesten Stipendien wurden daneben an meinen Schulkameraden von der Malsburg ausgetheilt, der

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Jacob Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 151. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Jacob_Grimm).pdf/4&oldid=- (Version vom 1.8.2018)