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Vierteljahr vorher zu Paris verrichtete, und gegen die neumodische Pariser Kleidung mußte ich in steifer Uniform mit Puder und Zopf stecken. Dennoch war ich zufrieden und suchte alle meine Muße dem Studium der Literatur und Dichtkunst des Mittelalters zuzuwenden, wozu die Neigung auch in Paris durch Benutzung und Ansicht einiger Handschriften, so wie durch den Ankauf seltner Bücher angefacht worden war.

Auf diese Weise verstrich nicht völlig ein Jahr, als ungeahnte Stürme über unser Vaterland hereinbrachen, die auch mich betreffen und aus dem kaum betretenen Wirkungskreise stoßen sollten. Gleich nach der feindlichen Okkupation verwandelte sich das Departement des Kriegskollegiums, wobei ich den Dienst zu versehen hatte, in eine für’s ganze Land errichtete Truppenverpflegungskommission. Mit der französischen Sprache konnte ich mir besser als die übrigen helfen, und ein großer Theil der lästigsten Geschäfte fiel auf meine Schultern, so daß ich ein halbes Jahr lang weder Tag noch Abend Ruhe hatte. Müde, mich mit den franz. Kommissärs und Verwaltungsbeamten, die uns damals überschwemmten, länger zu befassen und fest entschlossen, bei der neubevorstehenden Organisation um keinen Preis in diesem Fach angestellt zu bleiben, nahm ich, so bald es angieng, meine Entlassung, fand mich nun aber eine Zeitlang wieder außer Diensten und unfähiger als vorher, zur Erleichterung der Mutter und der Geschwister beizutragen. Ich glaubte um einen Posten bei der öffentlichen Bibliothek in Kassel werben zu können, da ich mich theils in das Lesen von Handschriften eingeübt, theils durch Privatstudien mit der Geschichte der Literatur vertrauter gemacht hatte, auch wohl fühlte, daß ich in diesem Fache größere Fortschritte thun würde, während mir die Erlernung des französ. Rechts, in das sich unsere Jurisprudenz zu verwandeln drohte, ganz verhaßt war. Allein die gewünschte Stelle wurde einem andern zu Theil, und nachdem das kummervolle Jahr 1807 vergangen und das neue mit stets getäuschten Aussichten begonnen war, hatte ich bald den tiefsten Schmerz zu empfinden, der mich in meinem ganzen Leben betroffen hat. Den 27ten Mai 1808 starb, erst 52 Jahr alt, die beste Mutter, an der wir alle mit warmer Liebe hiengen, und nicht einmal mit dem Trost, eins ihrer sechs Kinder, die traurig ihr Sterbebett umstanden, versorgt zu wissen. Hätte sie nur noch wenige Monate gelebt, wie innig würde sie sich meiner verbesserten Lage erfreut haben!

Ich war durch Joh. v. Müller Empfehlung dem damaligen Kabinetssekretär des Königs Cousin de Marinville bekannt und als tauglich zur Verwaltung der Privatbibliothek,

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Jacob Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 155. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Jacob_Grimm).pdf/8&oldid=- (Version vom 1.8.2018)