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nicht mehr allzufern, und nachdem eine sichere Grundlage gelegt worden, ohne welche die einzelnen Bemühungen leicht wieder zusammengebrochen wären, so steht eine abermalige Vergessenheit nicht mehr zu befürchten. Die geistige Bildung des Mittelalters läßt sich kaum mit einer andern vergleichen: in ihrer Eigenthümlichkeit ist zugleich Leben und Wahrheit, in ihrem Reichthume Mannichfaltigkeit, in einer nicht geringen Anzahl ihrer Erzeugnisse ein ausgezeichneter, innerer Werth; wie sollte jemand an einem für die Geschichte des menschlichen Geistes so wichtigen Zeitpunkte gleichgültig vorüber gehen können, oder sich vorsätzlich davon abwenden? Ein glücklicher Umstand scheint mir, daß der Charakter dieser Bildung einer flüchtigen, bloß geistreichen Betrachtung widerstrebt und die Geschicklichkeit mit allgemeinen Formeln das Ganze zu erfassen, oder, wie man sagt, sich anzueignen, dabei zu Schanden wird. Es sind schon Bücher in diesem Geiste geschrieben worden, vielleicht mit Talent. Wer die Dinge nicht kennt, mag hoffen, etwas daraus zu lernen, wer sie kennt, dem wird der Widerwille vor grundlosen Einbildungen und leeren Spiegelfechtereien alle Nachsicht unmöglich machen. Hier muß jedes einzelne nach seiner freien und unabhängigen Natur untersucht und gewürdigt werden, und nur auf diesem mühsamsten Wege darf man hoffen, zu einem wahrhaften Bilde jener Zeit zu gelangen. Es wird den meisten paradox lauten, dennoch ist es wahr: was die Gegenwart, der es nicht an Feinheit des Geistes und einer gewissen Schwelgerei in subtilen Gedanken fehlt, als ihr eigenthümlichstes preisen möchte, sie könnte in den Gedichten des 13ten Jahrhunderts das Gegenstück finden, und dabei eine Gewandtheit im Ausdrucke des Einzelnen, deren die heutige Sprache nicht mehr fähig ist. Freidanks Werk allein bewährt einen Grad von einem Selbstbewußtseyn und unbefangener Beobachtung der Welt, dessen sich die besten unserer Zeit nicht zu schämen brauchten. Das Mittelalter zu erforschen, um es in der Gegenwart wieder geltend zu machen, wird nur der beschränktesten Seele einfallen; allein es beweis’t auf der andern Seite gleiche Stumpfheit, wenn man den Einfluß abwehren wollte, den es auf Verständniß und richtige Behandlung der Gegenwart haben muß. In dieser Beziehung scheint es mir auch wichtig, daß die altdeutsche Literatur Veranlassung gab, auf Sitten, Gebräuche, Sprache und Dichtung des Volks die Aufmerksamkeit zu richten, und es verletzt schon jetzt den gelehrten Anstand nicht mehr, davon in ernsthaften Büchern zu reden und die Spuren des hohen Alterthums darin nachzuweisen. Ich erwähne hier die altdeutsche Literatur gewiß

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Wilhelm Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 173. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Wilhelm_Grimm).pdf/10&oldid=- (Version vom 1.8.2018)