Seite:Selbstbiographie (Wilhelm Grimm).pdf/16

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Seite laut abzulesen, eine Stunde lang, ohne Beschwerde sprechen, selbst mit verstärkter Stimme vorlesen. Auch äußerlich erholte ich mich, daß wer mich früherhin bleich und auf das äußerste abgemagert, wie ich war, gesehen hatte, mich kaum wieder erkannte. Mit dem Gefühl, als sey mir das Leben nochmals geschenkt, lernte ich jetzt erst die Umgebungen von Kassel, die so schön und mannigfach sind, auf Spaziergängen kennen. Nur mehrere Stunden gehen, durfte ich nicht, wenn das Herz nicht in ungewöhnliche und doch ängstliche Bewegung gerathen sollte, und auch jetzt darf ich es nicht wagen, so daß das Uebel wohl beruhigt, doch nicht gehoben scheint.

Das Ende der französischen Herrschaft nahte im Jahre 1813 heran. Die Bewegung der Maschine stockte in den letzten Tagen nach und nach, die Reste der Gewalt machten keinen Eindruck mehr, nur Gewohnheit und Sitte dauerten fort und erhielten die Ordnung. Seltsam wie in solchen Augenblicken, wo die Spannung nachläßt und geistig die Luft umschlägt, die Außenwelt daran Theil zu nehmen scheint: die Linien der Berge und Gegend, selbst die Formen der Gebäude zeigen sich unserm Blicke verändert, oder in einer fremdartigen Beleuchtung. Als schon die Lage der Dinge bekannt war, einen oder zwei Tage vor seinem Abzug, ritt der König noch einmal mit glänzendem Gefolge, wie gewöhnlich, und ziemlich langsam durch die Straßen. Vor dem Fenster, hinter welchem ich stand, stürzte, als er vorbei war, einer von den rothen französischen Husaren, welche die militärische Bedeckung übernommen hatten, er ritt zurück, hielt still, und ich konnte ihn genau betrachten. Auf seinem gelben, italiänisch feinen Gesichte war eine künstliche Kälte und in seinem ganzen Wesen Sorge für äußere Haltung ausgedrückt. Er ertheilte Befehle und wendete sich, ohne weiter Theilnahme zu zeigen, wieder ab. Der Verlust der im Traume gewonnenen Krone mag ihm verdrießlich gewesen seyn, Schmerz kann er, der seinen Unterthanen absichtlich gewiß nichts Böses zufügen wollte, aber wie ein wirklicher Fürst kein Wohlwollen für sie fühlte, nicht eigentlich empfunden haben; ohnehin war er an den Wechsel des Geschicks gewöhnt. Als auf seiner Flucht zwei seiner Begleiter, die neben dem Wagen herritten, einen Refrain aus der alten Oper Hieronymus Knicker, der auf sein Schicksal nicht übel paßte, in lustiger Laune absangen, erkundigte er sich nach dem Inhalte des Gesangs und lachte selbst mit, als ihm das Orakel so schicklich als möglich erklärt wurde, das er freilich, da er kein Deutsch gelernt, niemals vernommen hatte. Die Wiederherstellung von Hessen ist von uns mit

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Wilhelm Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 179. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Wilhelm_Grimm).pdf/16&oldid=- (Version vom 1.8.2018)