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erinnerte mich gar wohl der innern Einrichtung und sah über die Mauer des anstoßenden Gartens noch den Pfirsichbaum, dessen rothe Blüthe mich als Kind ergötzt hatte. Im Jahr 1790 hatte der Landgraf von Hessen zum Schutz der Kaiserwahl bei der Frankfurt nahe liegenden Stadt Bergen ein beträchtliches Korps zusammengezogen; um die große Revùe an einem festlichen Tage mit anzusehen, waren die Aeltern in das Lager hinausgefahren, und ich besinne mich deutlich, wie ich, zum Kutschenfenster herausschauend, die Regimenter mit den im Sonnenscheine blitzenden Gewehren vorübermarschieren sah und der Donner der Kanonen jedesmal den Wagen erschütterte. Nicht minder lebhaft steht mir noch in Gedanken, wie wir beide, Jakob und ich, Hand in Hand über den Markt der Neustadt zu einem französischen Sprachlehrer gingen, der neben der Kirche wohnte, und in kindischer Freude stehen blieben, um dem goldenen Hahn auf der Spitze des Thurmes zuzusehen, der sich im Winde hin und her drehte. Zwei Wege waren es besonders, die wir gemeinschaftlich machten, den einen zu der Schwester des Vaters, einer kinderlosen Wittwe, die in unserer Nähe wohnte, den andern zu den Aeltern der Mutter. Die Tante war eine verständige, wohlmeinende, aber ernste Frau, die uns den ersten Unterricht gab und einen großen Einfluß ausübte, da ihre Autorität unbedingt galt. Sie hing mit großer Liebe an unserm Vater, den sie als ältere Schwester in der Jugend gepflegt hatte, und als dieser zum Justizamtmann in Steinau ernannt wurde, verkaufte sie ihr Haus in Hanau, und zog mit dorthin. Sie hat ihn auch nicht lange überlebt. Die Festigkeit ihres Geistes verließ sie nicht, bis zu ihrem Ende. In der Nacht, wo sie die Annäherung des Todes fühlte, bat sie die Mutter, ihr ein Gebet vorzulesen; die Mutter fing das Gebet eines Kranken an, „nein, Frau Schwester, sagte sie, suchen Sie das Gebet eines Sterbenden auf.“ Sie hatte eine Vorliebe für Jakob, ohne minder theilnehmend für uns übrige Geschwister zu seyn, vielleicht trug die Aehnlichkeit mit dem Urgroßvater Friedrich Grimm, die ein erhaltenes Oelbild außer Zweifel setzt, dazu bei, vielleicht auch die frühe Aeußerung natürlicher Anlagen. Die Mutter erzählte wenigstens gerne, er habe schon lesen können, bevor andere Kinder anfangen zu lernen, und eine ganze Gesellschaft so sehr in Verwunderung gesetzt, daß alle sich hätten überzeugen wollen, ob er wirklich aus einem Buche ablese. Zu den Großältern giengen wir nicht täglich, wie zu der Tante, aber doch ein paarmal in der Woche zu bestimmten Tagen. Zwei Oelbilder aus jener Zeit vergegenwärtigen uns ihre Züge auf das lebendigste.

Empfohlene Zitierweise:
Wilhelm Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Wilhelm_Grimm).pdf/2&oldid=- (Version vom 1.8.2018)