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Der Großvater, Kanzleirath Zimmer, schon damals hoch bejahrt, lebte im Ruhestand. Er war um die Person des Landgrafen Wilhelm VIII. gewesen, als der siebenjährige Krieg diesen Fürsten nöthigte, sein Land zu verlassen, und eine gleichmäßige Freundlichkeit, Milde und Nachsicht war ihm wohl aus dieser Stellung eigen geworden. Er starb, oder vielmehr er schlief ohne Krankheit ein im Jahr 1803 in einem Alter von fast 90 Jahren, noch im vollen Besitze seiner Geisteskräfte; die Großmutter war ihm, doch auch schon sehr bejahrt, vorangegangen. Beide behandelten uns mit jener großen Zärtlichkeit, die Enkeln gewöhnlich zu Theil wird, und ich erinnere mich noch sehr gut, wie der Großvater, wenn wir späterhin ihn von Steinau aus besuchten, oft stundenlang sich zu uns setzte, seine zitternde Hände auf den Tisch legte und zusah, wie wir aus Niebuhrs arabischer Reise die Kupfer kopierten. Bis zu seinem Ende, als er die Feder nur noch mit Mühe halten und nur mit großer Anstrengung schreiben konnte, ertheilte er uns in Briefen die liebreichsten Lehren. – Des Abzuges der Aeltern nach Steinau erinnere ich mich noch als eines wichtigen Ereignisses; ich saß im Wagen auf einem Kästchen zu Füßen der Mutter und sah den blühenden Weißdorn an den Fenstern der Kutsche vorbeieilen, wenn diese zwischen Hecken hinfuhr. Ich kann übergehen, was Jakob schon von unserm Aufenthalte in Steinau erzählt hat. Ich erfreute mich in der ersten Jugend der vollkommensten Gesundheit und that es darin allen Geschwistern zuvor; ich erinnere mich nicht einmal eines leichten Uebelbefindens und selbst die Blattern, an welchen wir Geschwister alle darnieder lagen, konnten mir nichts anhaben. Jakob war von dieser furchtbaren Krankheit heftig ergriffen, das ganze Gesicht, auch die Augen waren bedeckt, und fünf oder sechs Tage lag er völlig erblindet. Ich weiß noch, wie er nach seiner Genesung zum erstenmal an einem sonnigen Tage spazieren gefahren wurde, und mit dem fleckigen und narbigen Gesichte, aber ganz unentstellten Zügen, im Wagen saß. Die Narben sind hernach bis auf wenige Spuren völlig verschwunden und der natürliche Ausdruck hat im mindesten nicht gelitten. Die Gegend von Steinau hat etwas angenehmes. Oft sind wir zusammen in den Wiesenthälern und auf den Anhöhen umhergegangen; der Sinn für die Natur mag uns, wie Vielen, angeboren seyn, aber er ist doch auch auf diese Art genährt und begünstigt worden. Noch jetzt weiß ich nichts, was so sicher die friedliche Stimmung der Seele, in welcher alles Glück beruht, hervorrufe, als ein einsamer Spaziergang, wo kein Gespräch und Unterhaltung uns an die Bemühungen des

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Wilhelm Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Wilhelm_Grimm).pdf/3&oldid=- (Version vom 1.8.2018)