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in ein Gefangenhaus verwandelt und die Fenster vergittert worden. Wir fühlen es nicht immer, wie unaufhaltsam alles versinkt, aber ich kann mich der Bewegung nicht erwehren, wenn eine Erinnerung mich auf einen Augenblick in eine längst untergegangene Zeit, die andern Schmerz und andere Freuden hatte, mitten hinein rückt. Der Vater hatte mir erzählt, daß als er, noch ein kleiner Knabe, nach dem Tode seiner Mutter der Landgräfin begegnet sey, sie theilnehmend gefragt und angehört habe, warum er Trauerkleider trage. Dabei fiel mir ein, daß, als der verstorbene Kurfürst einmal in dem Städtchen angelangt und in dem Schloß abgestiegen war, ich von dem Amtsdiener auf die Mauer gehoben wurde, um den Herrn besser sehen zu können. Er zeigte sich auch wirklich in der glänzenden Uniform am Fenster und war ein schöner Mann in seinen besten Jahren. Einige Jahre vor seinem Tode mußte ich ein paar Tage lang den Dienst in seiner Privatbibliothek zu Wilhelmshöhe versehen, er war ein Greis und klagte über innern Frost, aber mit sichtbarer Belebung und Freude erzählte er bei zufälliger Veranlassung, wie er in seiner Jugend mit seiner Mutter, eben jener Landgräfin, seine erste Reise an den Rhein gemacht habe und verlangte, ich sollte ihm ein Buch mit Bildern aus diesen Gegenden herbeiholen, in welchem er lange blätterte. – Ich ließ mir die Schlüssel zu der Kirche bringen, in welcher der Großvater vor etwa hundert Jahren seine Antrittspredigt gehalten hatte, und gieng ganz allein hinein. Die Sonne schien durch die hohen Fenster auf den ganz mit Leichensteinen bedeckten Fußboden der Kirche, wovon mehrere in das 16te Jahrhundert gehörten. Auf dreien, gerade vor dem Altar, fand ich die Namen meiner Familie: zwei Brüder des Vaters lagen da (er war der einzig übrig gebliebene) einer, der Friedrich hieß, war in der Jugend gestorben und eine lateinische Inschrift gedachte der ungewöhnlichen Gaben des Kindes und des tiefen Schmerzes der Aeltern bei seinem Verlust; der andere war schon Prediger in Hanau gewesen. Ueber beiden zwischen dem Altar und der Kanzel lag die Großmutter, und so war der Großvater zwanzig Jahre lang jeden Sonntag über ihr Grab zur Kanzel geschritten. Die jetzige Zeit scheut dergleichen Erinnerungen, mir scheint es würdiger, das Andenken der Verstorbenen auf diese Weise zu ehren. Der Großvater selbst war auf den vor der Stadt angelegten Kirchhof begraben worden, das wußte ich, und fand dort seinen Leichenstein, auf welchem eine kurze Erzählung seines Lebens steht. Er war 47 Jahre an demselben Orte Prediger gewesen. Wie beneidenswerth schien mir dieses Loos: ein segensvolles Amt, Liebe und Achtung der

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Wilhelm Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Wilhelm_Grimm).pdf/5&oldid=- (Version vom 1.8.2018)