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Gemeinde, Muße zur Betrachtung und zum Nachsinnen, und ein lebendiges und freudiges Gefühl des Daseyns. Ich suchte auch den Garten auf, den die Aeltern ehemals besessen hatten. Der Baum stand noch, an welchem der weiße Mantel der Mutter zu hängen pflegte, den wir von weitem sahen, wenn wir nach beendigter Schule nachkamen, und es war mir, als sähe ich sie selbst langsam über die Wiese hergehen. Als ich mit diesen Erinnerungen in dem Garten auf und ab gieng, kam ich mir selbst wie ein abgeschiedener Geist vor, der zu der ehemaligen Heimath wieder einmal zurückgekehrt ist. Ob das heftige Gefühl, das mir die Seele erfüllte, Schmerz oder Freude war, weiß ich nicht, es war wohl beides zugleich. Die Liebe zu meiner Mutter ist noch jetzt, nachdem sie länger als zwanzig Jahre im Grabe liegt, unvermindert in meinem Herzen, der Traum führt mich manchmal zu ihr hin, sie sitzt meist, wie in den letzten Jahren ihres Lebens, auf einem kleinen Teppich vor einem Arbeitstischchen, reicht mir die magere, aber sanfte Hand und fragt, warum ich so lange nicht bei ihr gewesen sey? Hätte es Gott gefallen, ihr Leben zu verlängern, welche Freude, wenn wir ihr die mühseligen, uns geopferten Jahre mit eben so viel stillen und ruhigen hätten vergelten können. Alte Leute kehren wohl, wenn keine Sorge und Arbeit sie mehr unterbricht, zu den Beschäftigungen der Jugend zurück, sie pflegen Blumen, einen Lieblingsvogel, und die Bücher, die der ernste Drang des Lebens ihnen verschlossen hatte, werden wieder geöffnet. Die Mutter las gerne, der Grandison war ihr Lieblingsbuch, dessen verschlungene Begebenheiten und vielfältige Charaktere sie sehr wohl behalten hatte; manchmal bei recht heiterer Stimmung sagte sie uns Stellen aus Gellerts beschämter Schäferin vor, worin sie als Kind eine Rolle gespielt hatte. – Ich habe zu dem, was Jakob von unserm Aufenthalte in Kassel, wohin wir im Herbste 1799 geschickt wurden und wo wir das Lyzeum besuchten, erzählt hat, weniges hinzuzufügen. Eine ältere Schwester der Mutter sorgte dort für uns so liebreich, wie die Mutter selbst. Ich war eifrig im Lernen, wie es auch sehr nöthig war, aber der Uebergang zu dieser sitzenden Lebensweise, denn der ganze Tag war mit Lehrstunden besetzt, wirkte nachtheilig auf meine bisher so feste Gesundheit. Nach einem an sich gar nicht heftigen, glücklich überstandenen Anfall des Scharlachfiebers, fieng ich an über beschwerten Athem zu klagen, wozu sich bald Schmerzen in der Brust gesellten. Ob mein schnelles Heranwachsen auch Schuld hatte, wie man versicherte, weiß ich nicht, aber wir Geschwister hatten meist alle, Vater und Mutter, die eher von kleiner

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Wilhelm Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 169. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Wilhelm_Grimm).pdf/6&oldid=- (Version vom 1.8.2018)