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militärischen Glanze einziehen sah. Bald änderte sich alles von Grund aus: fremde Menschen, fremde Sitten, auf der Straße und den Spaziergängen eine fremde, laut geredete Sprache. Keine andere deutsche Stadt hat so vielfachen Wechsel erlebt, als Kassel, und manchmal scheint es mir, als habe ich mehrere Menschenalter verschlafen, wenn ich bedenke, welche ganz verschiedene Zustände ich dort erlebt habe. Die Zeit nach der Wiederherstellung war doch in manchen Dingen von der früheren ab, und seit der Regierung des gegenwärtigen Kurfürsten hat sich Vieles wieder gar sehr verändert. Bei der westphälischen Zeit kann ich eine Bemerkung nicht unterdrücken, weil sie zu oft in die Gedanken zurückkehrt. Ich habe stets die Schmach gefühlt, welche in der fremden Herrschaft lag; an harten, unerträglichen Einrichtungen, an Ungerechtigkeiten aller Art fehlte es nicht und ich weiß wohl, mit welchem Gefühl ich die armen Menschen habe durch die Straße hinwanken gesehen, welche zum Tod geführt wurden; aber dieser Zustand drückte mich nicht nieder, wie er, selbst im geringeren Grade, würde gethan haben, sobald Gesetzlichkeit, Ordnung und Wahrheit an der Spitze stehen sollten. Aber damals entsprang das Unrecht aus der Lage der Dinge, die in vielen Fällen mächtiger war, als der Wille des Gewalthabers selbst; es schien mir eine Naturnothwendigkeit zu seyn, oder eine strenge Fügung Gottes.

Das Drückende jener Zeiten zu überwinden half denn auch der Eifer, womit die altdeutschen Studien getrieben wurden. Ohne Zweifel hatten die Weltereignisse und das Bedürfniß, sich in den Frieden der Wissenschaft zurückzuziehen, beigetragen, daß jene lange vergessene Literatur wieder erweckt wurde; allein man suchte nicht bloß in der Vergangenheit einen Trost, auch die Hoffnung war natürlich, daß diese Richtung zu der Rückkehr einer andern Zeit etwas beitragen könne. Was Bodmer früher angeregt hatte, war längst erstorben, dieses Gebiet konnte für ein eben entdecktes gelten, auch schien sich, wo man den Blick hinwendete, dem Auge etwas Neues darzubieten. Dazu kam die Zufriedenheit, die mit den ersten Versuchen verbunden zu seyn pflegt, wo man die Schwierigkeiten noch nicht kennt und alles aufs Beste gemacht zu haben glaubt. An Empfänglichkeit bei dem Publikum hat es niemals gefehlt; einige Ungunst ward hier und da durch die natürliche Neigung zum Widerspruche hervorgerufen, am widerwärtigsten wirkte der abgeschmackte Enthusiasmus unwissender Lobredner, welche ich dem Mehlthau vergleiche, der auf die gesundesten Pflanzen fällt und sie eine Zeitlang im Fortwachsen hemmt. Eine gerechte Würdigung scheint

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Wilhelm Grimm: Selbstbiographie. Chr. Garthe, Marburg 1831, Seite 172. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Selbstbiographie_(Wilhelm_Grimm).pdf/9&oldid=- (Version vom 1.8.2018)