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Die Madonna des heiligen Sixtus.
Von Raphael Sanzio von Urbino.

Von einem Stralenmeer umflossen, mit tausenden von Engeln im Gefolge, schwebt die Himmelskönigin, mit dem Sohn des Weltenvaters in den Armen, aus den hehren Räumen der seligen Geister hernieder zu den anbetenden Heiligen. Der Papst Sanct Sixtus kniet, von Wolken getragen, zu ihrer Rechten, und in stummer Anbetung fleht er den Segen der göttlichen Jungfrau und des Heilandes der Menschheit herab auf die armen Gläubigen der Erde, indeß Sancta Barbara ihm gegenüber mit seligem Lächeln dem harrenden Volke die Erhörung des Gebetes des herrlichen Greises verkündigt. Das Gemälde zeigt an beiden Seiten einen zurückgeschlagenen grünseidnen Vorhang, unten steht die dreifache Krone des Hirten der Christenheit und zwei geflügelte Engelknaben, nur zum Theil sichtbar, stützen sich auf die Brustlehne und blicken vertrauensvoll und entzückt zu der überirdischen Scene oben empor.

Die beredteste Sprache erschöpft nicht den bis in die Tiefen der Seele dringenden Eindruck dieser Offenbarung des begeisterten Genies auf den Beschauer. Diese sixtinische Madonna Raphael’s, mit der vollendetsten Schönheit geschmückt, in hehrem Liebreiz strahlend, ist ein überirdisches Wesen, dem nur die Anbetung nahen darf. Unendliche Liebe und Gnade thront auf ihrem Antlitze, aber die Hoheit in ihren Zügen verkündigt, daß das Wehen dieser Liebe aus dem ewigen Genügen göttlicher Vollkommenheit quillt. Der Blick ist rein, klar, leuchtend; die Erde fesselt ihn nicht; er ist groß und ruhig in den unendlichen Raum gerichtet, und der Beschauer vermag es nicht, nur einen Stral dieser geradeaus ihm entgegenblickenden Augen als ihn treffend aufzufangen. Der „Menschensohn“ in den Armen der Himmelskönigin blickt seitwärts. Die göttliche Weisheit, welche die Welt erleuchtete, blitzt aus seinen kindlichen Zügen, die von dem Lächeln „menschlicher“ Liebe sanft verklärt erscheinen. Mit dieser sixtinischen Madonna in ihrer Apotheose verglichen, sind die Madonnen aller anderen Maler nur Erdentöchter, und Raphael selbst hat diese höchste Auffassung in seinen übrigen Madonnen nicht erreicht. Das Gemälde war ursprünglich für eine der bekannten Processionsfahnen der katholischen Kirche bestimmt und scheint, ungeachtet seiner unübertroffenen Ausführung, rasch zur Vollendung gediehen zu sein. Die beiden Engel unten sind später auf die Wolkenschicht gemalt, um den zu großen leeren Raum auszufüllen.

Raphael, der größte Maler der neueren Zeit, welcher, gleich dem unsterblichen William Shakespear, die tiefsten, erhabensten Geheimnisse der Menschenbrust enthüllt, und mit einer

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Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 836. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/853&oldid=- (Version vom 1.8.2018)