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wunderbaren Universalität in der Darstellung jedes Stoffes, den er erfaßte, unvergleichlich groß war, Raphael ward als der Sohn des Malers Giovanni di Santi am stillen Freitage, den zweiundzwanzigsten März 1483 zu Urbino geboren. Als der Knabe anfing, seine beispiellose Begabung für die Kunst zu entfalten, wagte sein Vater es nicht mehr, ihn weiter zu bilden, sondern übergab Raphael dem Pietro Perugino, den er sehr bald täuschend nachahmen, aber auch nicht weniger rasch weit übertreffen lernte. Fortan waren seine eifrigen Studien nach der Antike, nach des herrlichen Leonardo da Vinci’s und Michelangelo’s Werken seine Führer auf dem glänzenden Pfade zur Unsterblichkeit, die er durch die Schöpfung seiner ungemein zahlreichen Werke sich erringen sollte. Bedenkt man, daß der „göttliche Meister“ schon im siebenunddreißigsten Jahre seines Lebens von der Erde abberufen wurde, so kann man einen Schluß auf die Leichtigkeit und Schnelligkeit machen, womit Raphael entwarf und malte, zumal da er nie der Industrie des Meisters Rubens huldigte, Bilder durch seine zahlreichen Schüler ausführen zu lassen, um sie als seine eigenen Werke zu verkaufen.

Ganze Bände würden nothwendig werden, sollten auch nur die Hauptwerke Raphael’s beschrieben und erklärt werden. Hier können nur einige Andeutungen des bewundernswerthen Fleißes und des unerschöpflich fruchtbaren Genies Raphaels Raum finden. Die erste selbständige Arbeit Raphael’s ward von ihm in Citta di Castello, in der Kirche zu San Domenico vollendet: ein Christus am Kreuze, mit welchem Gegenstande er sich, characteristisch genug, nur mit Mühe befreunden konnte. Während Michel Angelo Buonaroti den von Qualen zermarterten Heiland am Kreuze als sein „hohes Ideal“ betrachtete, und durch das unsäglichste Studium die Bewegung und Form jeder Muskel des Sterbenden am Kreuze zu ergründen strebte, hat Raphael diese blutige, grausame Scene später nicht wieder mit Vorliebe zu behandeln vermocht. Gleich vom Anfang seiner glorreichen Laufbahn an trat das Ideale von Raphael’s Genie in helles Licht, und eine heilige Familie, wo der kleine Christus den Täufer Johannes begrüßt, den die heilige Elisabeth führt, zeigt schon den herrlichen Ton seiner späteren Gemälde sammt der wundervollen Zartheit und Größe der Auffassung, die ihm von Natur eigen war. Ebenfalls aus seiner ersten Periode sind zwei Madonnen und Christus mit den Aposteln am Oelberg, für den herzoglichen Palast zu Urbino, Stücke, welche wegen der ungemein fleißigen Ausführung sowohl als wegen ihres edlen Charakters große Bewunderung erregten.

Während Pietro Perugino begann, die Manier des Masaccio im Malen anzunehmen, schwang sich Raphael, anstatt niederwärts zu blicken, gleich einem Adler kühn zur Sonnenhöhe der Kunst empor. In der Kapelle zu San Francesco zu Perugia bewies Raphael in seiner Grablegung Christi, wie mächtig er bereits den charakteristischen Ausdruck seiner Figuren hervorzubringen wußte. Von dieser Zeit an folgte er seinem eigenen Genius, und als er nach Rom gekommen war, begannen seine geistreichen Studien nach der Antike, wobei der Meister einen Fleiß entfaltete, dem nur derjenige seines mächtigen Nebenbuhlers Michel Angelo gleichkommt. Leonardo da Vinci’s und Michel Angelo’s Werke machten auf den jugendlichen Künstler einen tiefen Eindruck, aber schon seine erste Arbeit in Rom bewies, daß er sich vor den Schöpfungen dieser großen Genies groß gefühlt hatte; denn die ideale und formenschöne Wahrheit Leonardo’s und die dämonische Kraft Michel Angelo’s ward von dem universalen Geiste Raphaels, durch seine eigene Auffassung verklärt, gleichsam vereinigt zur Anschauung gebracht.

Empfohlene Zitierweise:
Text von Adolph Görling: Stahlstich-Sammlung der vorzüglichsten Gemälde der Dresdener Gallerie. Verlag der Englischen Kunst-Anstalt von A. H. Payne, Leipzig und Dresden 1848−1851, Seite 837. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Stahlstich-Sammlung_der_vorz%C3%BCglichsten_Gem%C3%A4lde_der_Dresdener_Gallerie.pdf/854&oldid=- (Version vom 1.8.2018)